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ATOM/1098: Dauerfeuer aus dem CASTOR - Interview mit Prof. Dr. Rolf Bertram (Gorleben Rundschau)


Gorleben Rundschau - Januar/Februar 2015, 1028/1029

Dauerfeuer aus dem Castor

Professor Rolf Bertram im Gespräch mit Andreas Conradt


Professor Rolf Bertram gilt als ausgewiesener Fachmann, wenn es um kernchemische Fragen geht. In dieser Funktion hat er kürzlich für den Landkreis Lüchow-Dannenberg eine Expertise über Aktivierungsphänomene durch Neutronenbeschuss aus den in Gorleben gelagerten Castoren erstellt. Doch Bertram gilt seit langem auch als Atomkraftgegner. In beiden Funktionen sprach er mit der Gorleben Rundschau.


Die Summe der Außenflächen aller 113 in Gorleben eingelagerten Castoren übersteigt die Größe eines Fußballfeldes. Trotz der hinter dieser Oberfläche liegenden Stahlarmierung entweichen aus den Behältern permanent so genannte thermische Neutronen. Das ist technisch unumgänglich. Doch diese Neutronen aktivieren mittels kernchemischer Reaktionen Ionen, Atome und Moleküle, die über das Kühlungssystem das Zwischenlager verlassen. So können Luft, Schwebstoffe, Wasser und Boden verseucht werden.


Gorleben Rundschau: Herr Professor Bertram, Sie haben kürzlich im Atomausschuss des Landkreises Lüchow-Dannenberg eine Expertise erstellt. Worum geht es?

Prof. Rolf Bertram: Ich habe herausgefunden, dass es eine Fülle von Defiziten gibt, insbesondere was die mögliche Messtechnik betrifft. Der Betreiber hat sich auf einfache Untersuchungen beschränkt, weil von der Aufsichtsbehörde nicht mehr vorgeschrieben ist. Das ist kein Vorwurf an den Betreiber. Der macht nur, was er zur Auflage bekommt, aber die ist eben überhaupt nicht naturwissenschaftlich belastbar. Sie ist ein Ausschnitt aus möglichen Messungen, aber kein vollständiges, belastbares Messsystem. Aufgrund dieser erkannten Defizite habe ich mir meine Gedanken gemacht.

GR: Dabei sind Sie zu der Überzeugung gelangt, dass es um die Gorlebener Atomanlagen Kontamination geben müsste. Haben Sie denn nicht gemessen?

RB: Nein, ich habe weder gemessen - das geht gar nicht, dazu ist die Apparatur zu aufwändig -, ich habe aber auch nicht gerechnet, weil ich Rechnungen schon von vornherein als sehr fragwürdig betrachte. Rechnungen stehen und fallen in ihrem Wert damit, dass man bestimmte Eingangsdaten zur Verfügung hat. Wenn diese Eingangsdaten, wie es üblicherweise in Rechnungen gemacht wird, begrenzt werden, dann kann auch nur eine sehr begrenzte Aussage herauskommen - also eine Aussage, die von der Realität weit entfernt ist. Aus dem Grunde habe ich einen anderen Weg gewählt, der streng naturwissenschaftlich ist. Dabei habe ich die Frage gestellt, welche kernchemischen und luftchemischen Prozesse ablaufen, die schließlich zur Anreicherung solcher kontaminierter Stoffe führen.

GR: Welche Prozesse sind das?

RB: Das Grundprinzip ist die Umwandlung von Stickstoff der Luft unter dem Einfluss von thermischen Neutronen. Diese sozusagen "langsamen" Neutronen kommen aus den Castoren, auch wenn sie geschlossen, dicht und technisch einwandfrei sind, weil die Neutronen durch die Wandungen hindurchgehen. Das ist ein zwangsläufiger Ablauf. In der Folge spielt sich eine so genannte N-P-Reaktion ab, bei der es zu einer Umwandlung des nicht-radioaktiven Stickstoffs der Luft - immerhin über 70 Prozent - zu Radio-Kohlenstoff kommt. Diese Verwandlung unter dem Einfluss thermischer Neutronen ist seit langem bekannt. Der Radio-Kohlenstoff - wie der normale Kohlenstoff, den es überall in der Natur gibt, auch - verbindet sich sehr schnell mit dem Sauerstoff der Luft, was zum Entstehen von Kohlendioxid führt, nur das "C" darin, also der Kohlenstoff, ist nicht normaler, sondern radioaktiver Kohlenstoff, also 14C. Die ständige Zunahme an kontaminiertem Radio-Kohlenstoff führt dann zu einer Anreicherung.

GR: Wo findet diese Anreicherung statt?

RB: Die Anreicherung kann an Schwebteilchen in der Luft stattfinden, sie kann im Boden stattfinden, wenn Niederschläge erfolgen, und sie kann durch Assimilation des CO2 in Pflanzen auftreten, denn Pflanzen unterscheiden nicht, ob das CO2 radioaktiv ist oder nicht. So kann die Radioaktivität auch in die Nahrungskette gelangen.

GR: Wird die Pflanze durch das radioaktive Kohlendioxid nicht geschädigt?

RB: Für Pflanzen ist radioaktives CO2 zunächst kein Problem - außer bei Bäumen. In meiner Expertise empfehle ich darum auch, die Jahresringe von Baumscheiben auf 14C hin zu untersuchen. Ich bin ganz sicher, dass man seit der Einlagerung der Castoren von Jahresring zu Jahresring eine Zunahme von Radiokohlenstoff messen würde. Die Baumscheibe ist ein sehr sicherer Indikator.

Es wurden bisher auch keine Bodenproben in verschiedenen Tiefen gemacht. Das Typische ist ja, dass Schadstoffe - direkt oder indirekt über Pflanzen - zunächst aus der Luft auf den Boden gelangen und dann allmählich mit den Niederschlägen in die tieferen Bodenschichten hineingelangen. Ich bin überzeugt, dass sich in den verschiedenen Tiefen eindeutige Unterschiede zeigen würden.

GR: Im Zwischenlager in Gorleben stehen mittlerweile 113 Castoren. Was ist das konkrete Ergebnis Ihrer Überlegungen für diesen Standort?

RB: Das, was bislang dort gemessen wird, ist weit ab von der Realität. Tatsächlich müssten eine Fülle anderer Messungen, wie ich sie in der Expertise aufgeführt habe, durchgeführt werden. Erst wenn dieses ganze Sortiment an möglichen Messungen vorliegt, kann man wie auf einer Landkarte der Region feststellen, wo es belastete Bereiche gibt. Es ist vollkommen falsch, anzunehmen, dass es eine gleichmäßige Belastung in der Region gibt. Es ist auch falsch, anzunehmen, dass es nur in der Abluftzone zu solchen Anreicherungen kommt. Das Ganze muss man viel kleinräumiger sehen und davon ausgehen, dass es innerhalb dieser so genannten Abluftkeule Hot-Spots gibt, also lokal eng begrenzte Bereiche, wo besonders hohe Kontamination auftritt.

GR: Die Betreiberfirma des Zwischenlagers sagt, dass sie sehr wohl Proben entnimmt: Pflanzen nach der Vegetationsperiode, aber auch Bodenproben. Der von Ihnen beschriebene Effekt sei aber nicht feststellbar. Widerlegt das, was Sie sagen?

RB: Diese Messungen möchte ich erst mal sehen. Ich möchte auch wissen, wer die gemacht hat und unter welchem Gesichtspunkt sie gemacht wurden. Wenn der Betreiber pro Jahr nur wenige Proben entnimmt und dabei nicht auf einen der Hot-Spots trifft, ist das Ergebnis überhaupt nicht aussagekräftig.

GR: Das würde ja bedeuten, dass man diese ganze Abluftkeule ­...

RB: ... sehr kleinräumig auf Bodenbelastungen untersuchen müsste, ja! Aber es geht ja nicht nur um Bodenbelastung. Es geht ja auch darum, dass man durch die Niederschläge womöglich Einträge ins Grundwasser bekommt. Oder in die Kanalisation und damit über die Wasseraufbereitung ins Trinkwasser. Es ist also eine ganze Palette, die untersucht werden müsste. Es reicht nicht aus, wenn ich hier und da mal eine Bodenprobe entnehme.

GR: Welche Dramatik hat das Ergebnis?

RB: Das ist ein Punkt, über den ich sehr lange nachgedacht habe, denn ich will ja auch keine Panik verbreiten. Deshalb bin ich über die Konsequenzen, die dieses Phänomen auslösen sollte, sehr zurückhaltend, weil ich mir sage: Darüber kann ich erst nachdenken, wenn all diese Punkte, die ich als defizitär gekennzeichnet habe, untersucht worden sind.

GR: Warum wurde die Expertise erstellt?

RB: Sinn der Expertise ist, nachzuweisen, was man tun kann - und nachzuweisen, was man nicht getan hat. Man hätte die Untersuchungen, die ich nun angestellt habe, schon vor Jahrzehnten machen müssen. Dass man sie nicht gemacht hat, liegt daran, dass die entsprechenden Auflagen an den Betreiber dazu im Strahlenschutzgesetz fehlen. Sie fehlen aber auch bei der Aufsichtsbehörde, also dem niedersächsischen Umweltministerium (NMU).

Beide, Betreiber und NMU, machen aber nur das, was sie unbedingt müssen - kein Stück mehr. Es könnte immerhin sein, dass das gegenwärtige NMU ein Stück darüber hinausgeht.

GR: Gibt es das in Ihrer Expertise vorgestellte Phänomen nur in Gorleben, oder ist die Expertise auf andere Standorte, an denen hochradioaktiver Müll gelagert wird, übertragbar?

RB: Das gilt für alle Standorte, an denen Castoren eingelagert sind, die nur von Luft umgeben sind. In Gorleben ist es meiner Meinung nach so erwähnenswert, weil dort eine natürliche Luftkühlung stattfindet: Unten geht die Frischluft rein, streicht dann an den Castoren entlang und geht oben wieder raus. Und dabei wird einfach in die Luft geblasen, was durch die beschriebenen Umwandlungsprozesse gebildet wird.

GR: Laufen diese Umwandlungsprozesse auch in Lagern mit mittel- und schwachradioaktivem Müll ab?

RB: Nein! Dort spielt das keine Rolle, weil im mittel- und schwachaktiven Abfall keine kernchemischen Prozesse ablaufen, die Neutronen entwickeln. Der Effekt der Neutronenbildung spielt nur bei hochradioaktivem Abfall eine Rolle.

GR: Wer hat die Expertise initiiert - und warum? Gab es einen Anfangsverdacht?

RB: Die Expertise hat der Landkreis Lüchow-Dannenberg in Auftrag gegeben - wahrscheinlich aufgrund einer früheren Publikation von mir, in der ich schon über die Defizite gesprochen und dabei auch gesagt habe, dass jeder Castor eine Neutronenquelle ist.

GR: Gibt es schon Reaktionen auf Ihre Expertise?

RB: Dem Atomausschuss des Landkreises erscheinen die aufgeführten 14 Punkte wichtig, und sie sollen an die entsprechenden Stellen in den Landes- und Bundesumweltministerien zur Beantwortung weitergeleitet werden. Wenn das geschieht, habe ich Erfolg gehabt.

GR: Welche Ihrer 14 Empfehlungen müsste am dringendsten umgesetzt werden?

RB: Es müsste sehr schnell messtechnisch der Beweis geführt werden, dass tatsächlich in einem bestimmten Luftraum ständig Radio-Kohlenstoff durch thermische Neutronen entwickelt wird. Dazu müsste ein Castor ein paar Wochen oder Monate mit einer Folie gasdicht abgeschlossen werden, um danach in diesem abgegrenzten Gasvolumen die Anreichung des radioaktiven Kohlenstoffs zu messen. Das wäre eine schnell zu realisierende Maßnahme, die in relativ kurzer Zeit klare Ergebnisse zeitigen würde.

GR: Kann man nach dem Bekanntwerden Ihrer Expertise noch guten Gewissens demonstrieren, oder muss man in der Nähe des Zwischenlagers Angst haben, sich zu schaden?

RB (lacht): Nein! Ein kurzfristiger Aufenthalt ist schadlos, oder so gut wie schadlos. Was ich nicht empfehlen kann, ist ein permanenter Aufenthalt im unmittelbaren Umkreis der Anlage.

GR: Vielen Dank, Herr Professor Bertram, für das Gespräch.

*

Quelle:
Gorleben Rundschau - Januar/Februar 2015, Seite 12-13
Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V.
Rosenstr. 20, 29439 Lüchow
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2015

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