Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → BRENNPUNKT


GEFAHR/015: Brandsatz Fukushima - wissenschaftsverwertet ... (SB)


Ein Leben unter dem Leichentuch

Green Cross Schweiz warnt vor radioaktiven Hotspots auch außerhalb der Evakuierungszone rund um das havarierte japanische Akw Fukushima Daiichi

Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Der dreifache GAU im japanischen Akw Fukushima Daiichi im März 2011 hat nicht nur gezeigt, daß die Spaltung des Atoms unkontrollierbar ist und verheerende Schäden an Mensch und Umwelt hinterläßt, sondern auch, daß die Atomenergie einen Vorwand für staatliche Repressionen liefert. So hat die japanische Regierung unter dem nationalistischen Premierminister Shinzo Abe von der Liberal Demokratischen Partei (LDP) ein Gesetz erlassen, durch das unter anderem Whistleblower aus der Atomindustrie und investigative Journalisten, die nicht das harmonische Bild von der Bewältigung der atomaren Krise verbreiten und dies durch belastbares Datenmaterial zu begründen wissen, wegen "Geheimnisverrats" bis zu zehn Jahre ins Gefängnis wandern können.

Anstatt nun die Gelegenheit, daß mehrere Jahre lang alle Atomkraftwerke des Landes abgeschaltet waren, zu nutzen, um aus der Atomenergie auszusteigen, hat Japan vor kurzem dem inzwischen dritten Akw grünes Licht erteilt, so daß es wieder in Betrieb gehen kann. Man könnte sich die Frage stellen, aus welchem Grund die Regierung auf die Atomenergie verzichten soll. Die Antwort darauf ist einfach: Als Vertreterin des Volks hat sie die Aufgabe, die Bevölkerung vor physischem Schaden zu bewahren. Dieser Aufgabe kommt sie nicht nach. Statt dessen bewahrt sie die Atomwirtschaft vor ökonomischen Schäden. Sie verharmlost nach Strich und Faden seit Jahren das Ausmaß und die Schadenswirkung der radioaktiven Verstrahlung sowohl der Landfläche als auch des Pazifischen Ozeans.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, wollte man sämtliche administrativen Machenschaften der letzten fast fünf Jahre zur Verschleierung der Strahlengefahr aufzählen. Nur zwei Beispiele, die bis heute relevant sind. Erstens: Reihenuntersuchungen von Schulkindern in der Präfektur Fukushima haben eine signifikant höhere Rate an Knötchen in der Schilddrüse und Schilddrüsenkrebs ergeben als im Rest des Landes. Dennoch leugnet die Regierung den eindeutigen Zusammenhang zur radioaktiven Verstrahlung seit Beginn der Fukushima-Katastrophe vom 11. März 2011.

Zweitens: Es ist hinlänglich bekannt, daß die offiziell aufgestellten Strahlenmeßgeräte regelmäßig niedrigere Werte anzeigen als die Meßgeräte von Privatpersonen an den gleichen Orten. Ob das immer noch daran liegt, daß bei den offiziellen Geräten die Sensoren durch bleihaltige Akkus rundum vor der Strahlung abgeschirmt werden, oder ob inzwischen auch andere massive Manipulationen vorgenommen werden, soll an dieser Stelle nicht näher erörtert werden ...

Jedenfalls ergeben privat organisierte Radioaktivitätsmessungen regelmäßig höhere Strahlenwerte und entlarven damit die offizielle Politik als gemeingefährliche Verschleierung der Gesundheitsgefahren. So teilte die in der Schweiz ansässige Organisation Green Cross jetzt mit, daß auf ihre Veranlassung hin in der japanischen Präfektur Fukushima Radioaktivitätsmessungen vorgenommen wurden, bei denen auch außerhalb des Sperrgebiets rund um das Akw Fukushima Daiichi Hotspots mit bis zu 26 Millisievert erfaßt wurden. Die Ergebnisse der Untersuchung stellte der Kernphysiker Dr. Stephan Robinson, Bereichsleiter (Wasser, Abrüstung) von Green Cross Schweiz, am 30. Januar auf einer Informationsveranstaltung der Organisation vor. [1]

Den höchsten Strahlungswert von 4,01 Mikrosievert pro Stunde registrierten die Experten in der evakuierten Stadt Tomioka, Präfektur Fukushima. Zur besseren Einordnung: Das entspricht einer Jahresdosis von 35 Millisievert respektive dem 35fachen des internationalen Grenzwerts für die allgemeine Bevölkerung.

Die Organisation erwähnte es nicht eigens, aber die Einwohner Tomiokas wurden ausgerechnet nach Koriyama evakuiert, wo sie beinahe vom Regen in die Traufe gekommen sind. Denn auch diese Stadt, die in der Präfektur Fukushima liegt, ist noch heute hochgradig verstrahlt, wie die Daten von Green Cross zeigen. So berichtete Robinson, daß im Stadtpark von Koriyama bis zu 20 Millisievert pro Jahr und an einer Straße in der Stadt 3 Mikrosievert pro Stunde - das entspricht 26 Millisievert pro Jahr - gemessen wurden. "Die Analyse der Bodenproben zeigt zudem gerade bei Alpha- und Betastrahlern eine massive Überschreitung der Grenzwerte, was eine besonders grosse interne Strahlengefahr bedeutet, wenn diese durch Lebensmittel in den Körper gelangen", erklärte er Kernphysiker.

Koriyama liegt in einem von zwei radioaktiven Kontaminationsgürteln, die vom Akw Fukushima 225 Kilometer nach Süden in Richtung Tokio sowie nach Südwesten reichen. "In der Stadt sind die Grenzwerte bei Radium-226, Thorium-232, Cäsium-137 und Strontium-90 um ein Vielfaches überschritten. Diese kontaminierten, strahlenden Hotspots sind unregelmässig wie Flecken auf einem Leopardenfell verteilt", schätzt Green Cross die aktuelle Lage in Koriyama ein. Und weiter: "Japan ist aufgefordert, den Evakuierungsbefehl auf die Kontaminationsgürtel zu erweitern. Auch eine Rückkehr in Gebiete ausserhalb der Sperrgebiete ist mit Risiken verbunden - lokale Erzeugnisse sind durch radioaktive Stoffe bedroht, die sehr langlebig und ungleichförmig in vielen Hotspots verteilt sind - und Landwirtschaftsprodukte sind kaum zu verkaufen und zu essen."

Damit liefert die 1993 von Michail Gorbatschow initiierte Organisation ein vollkommen anderes Bild von der Lage innerhalb der verstrahlten Gebiete als die Regierung, die beschlossen hat, daß zuvor evakuierte Gebiete wieder besiedelt werden und Nahrungsmittel aus vermeintlich strahlungsfreien oder -armen Regionen verzehrt werden können. Letzteres wird geradezu mit einem Nationalethos befrachtet, so daß Eltern, die ihre Kinder vor dem möglicherweise radioaktiven Schulessen schützen wollen, indem sie ihnen eigenes Essen mitgeben, ebenso wie ihre Kinder sozial geächtet werden.

Auch wenn Green Cross keine flächendeckenden Radioaktivitätsmessungen durchgeführt hat, sollte man von einer verantwortungsbewußten Regierung eigentlich erwarten, daß sie auf solch hohe Meßwerte reagiert und beispielsweise neue Evakuierungszonen ausruft und auf der anderen Seite die bereits evakuierten Menschen nicht mittels der Streichung der Zuwendungen zwingt, in verstrahlte Gebiete zurückzukehren.

Es hat den Anschein, als sei es der Regierung fünf Jahre nach Beginn der Havarie des Akw Fukushima Daiichi gelungen, zwar nicht die Nuklearkatastrophe, wohl aber die Bevölkerung unter Kontrolle zu bekommen. Waren unter dem unmittelbaren Eindruck dreier Wasserstoffexplosionen und dem sich wochenlang anschließendem radioaktiven Fallout noch Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die Atomenergie zu protestieren, so ist inzwischen wieder Normalität eingekehrt. Aber es handelt sich nicht um die gleiche Normalität wie vor der Katastrophe, sondern um eine, über die sich ein Leichentuch gelegt hat, und diejenigen, die darunter leben, spüren das eigentlich sehr genau.


Fußnoten:

[1] http://www.greencross.ch/uploads/media/media_2016_01_30_kernenergie_green_cross_infoevent_de.pdf

1. Februar 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang