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GEFAHR/026: Brandsatz Fukushima - immer rin mit de Füße in den Strahlengrund ... (SB)


"Atomstaat" Japan hebt Evakuierungsanordnung für nach wie vor verstrahlte Gebiete auf


Grafische Darstellung der Strahlenausbreitung von Fukushima im gesamten Pazifischen Ozean, hinterlegt mit dem Symbol für Radioaktivität und der Überschrift: 'Noch 10 Jahre?' - Grafik: © 2013 by Schattenblick

Brandsatz Fukushima
Grafik: © 2013 by Schattenblick

Woche für Woche eine Röntgenuntersuchung des Brustkorbs, ohne Ende ... was sich wie eine höllische Szene aus Dantes Inferno vernimmt, soll für die Bewohner des japanischen Distrikts Iitate Wirklichkeit werden. Das berichtete Ai Kashiwagi, Energieexperte der Umweltorganisation Greenpeace Japan, die eigene Messungen in den demnächst freigegebenen Gebieten rund um das Akw Fukushima Daiichi durchgeführt und deutlich über den offiziellen Werten liegende Strahlenbelastungen festgestellt hat. [1]

Die Regierung des japanischen Premierministers Shinzo Abe hebt bis Ende des Monats die Evakuierungsorder auf und wird ein Jahr danach auch die Unterstützungsgelder für die Menschen, die nach der Zerstörung von vier Reaktoren des Akw Fukushima Daiichi am 11. März 2011 vor dem radioaktiven Fallout fliehen mußten, einstellen. Nun sollen die Menschen dazu gedrängt werden, in ihre frühere Heimat zurückzukehren. Doch die ist nicht mehr das, was sie einst für die Menschen war: ein Hort der Geborgenheit, ein Zuhause, mit einem vertrauten sozialen Umfeld. Statt dessen: Rückkehr in partiell gesundheitsgefährdend stark verstrahlte Häuser und Siedlungen, umgeben von Waldgebieten, die nicht dekontaminiert sind und es auch niemals werden, da man sie nicht flächendeckend abtragen kann. Die Wälder bilden eine Strahlengefahr, die bis über das Lebensende der heute heranwachsenden Generation anhält. Zugleich werden durch Wind und Wetter sowie Wildtiere laufend jene Siedlungs- und Infrastrukturflächen von neuem radioaktiv verseucht, die irgendwann einmal in den letzten sechs Jahren dekontaminiert worden waren.

Menschen, die nach Iitate zurückkehren, dürften sich eigentlich nur auf ganz bestimmten Wegen bewegen, da 75 Prozent der Fläche des Distrikts von radioaktiv belasteten Wäldern bewachsen sind. Die Strahlenwerte seien vergleichbar mit denen in der 30-Kilometer-Sperrzone von Tschernobyl, in die seit Jahrzehnten niemand zurückkehren darf, schreibt die Umweltorganisation Greenpeace.

Sechs Jahre nach Ausbruch der Permanentkatastrophe von Fukushima setzt die Regierung den Evakuierten die Pistole auf die Brust: Geht zurück oder macht, was ihr wollt, wir jedenfalls haben beschlossen, daß eine Rückkehr nach Iitate und drei weitere Distrikte, für die die Evakuierungsanordnung aufgehoben wird, sicher ist. Betroffen sind rund 32.000 Einwohnerinnen und Einwohner, schreibt Asahi Shimbun [2]. Die japanische Tageszeitung geht nicht davon aus, daß viele der Evakuierten zurückkehren werden. Einige hätten sich inzwischen woanders eine Existenz aufgebaut, andere seien in Sorge, daß die medizinische Versorgung in der Evakuierungszone unzureichend ist, wiederum andere fürchteten die nach wie vor hohe Strahlenbelastung. Jedenfalls sind bislang erst elf Prozent der Evakuierten nach Naraha und neun Prozent nach Katsurao zurückgekehrt, was die Zeitung als Anhaltspunkt dafür betrachtet, wie gering die Zahl der Menschen sein wird, die sich wieder in Iitate ansiedeln wollen.

Die Furcht vor einer hohen Strahlenbelastung ist berechtigt. Die Regierung hatte es wohlweislich unterlassen, die Lebenszeitdosis bekanntzugeben, die Bürgerinnen und Bürger, die nach Iitate zurückkehren, erhalten könnten, und mußte dies auch eingestehen. Darauf machte Greenpeace Japan aufmerksam, die gemeinsam unter anderem mit Heinz Smital von Greenpeace Deutschland Tausende von Radioaktivitätsmessungen in Iitate durchgeführt hat. Demnach lagen fast alle Meßwerte weit über dem von der Regierung gesetzten langfristigen Dekontaminationsziel von 0,23 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h), was einer Jahresdosis von ungefähr 1 Millisievert (mSv/yr) entspricht. In einem der gründlich untersuchten Häuser liefen die Meßwerte auf eine Jahresdosis von 5,1 bis 10,4 mSv hinaus; außerhalb des Hauses auf 2,5 mSv, was deutlich über die Empfehlung von 1,0 mSv/yr der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICPR - International Commission on Radiological Protection) hinausgeht. [3] Und deren Wert liegt um das Zehnfache über dem, was im vergangenen Jahr Strahlenschutzexperten in einem Gutachten der Umweltorganisation BUND empfohlen haben. [4]

Zwar strömen nach wie vor gewaltige Mengen radioaktiv verseuchtes Grundwasser in den Pazifik, tragen Wind und Wetter Radionuklide kreuz und quer durchs Land, werden zuvor dekontaminierte Gebiete erneut verseucht, aber wie in einem riesigen Experiment sollen die Menschen zurückkehren und so tun, als gehe das Leben weiter und sei nichts geschehen.

Im November vergangenen Jahres hat sich vor der Ostküste Japans ein Erdbeben der Stärke 7,4 ereignet, bei dem ein Tsunami entstand, der immerhin die Höhe von einem Meter erreichte. [5] Die Erschütterungen waren in der Präfektur Fukushima gut zu spüren. Nach Angaben der Betreibergesellschaft Tepco hat das Beben zu keinen weiteren Schäden am Akw Fukushima Daiichi geführt.

Das mag zutreffen oder auch nicht, es wäre jedoch ein Fehler anzunehmen, daß dies die Stabilität und Sicherheit des von einem kräftigen Erdbeben und anschließend einem bis zu vierzehn Meter hohen Tsunami zerstörten Akw Fukushima Daiichi beweist. Das wäre ja beinahe so, als wähnte sich ein Mensch sicher, nur weil ein in seine Richtung abgegebener Warnschuß nicht getroffen hat.

Die Kernschmelzbereiche von drei Reaktoren sind nicht zugänglich, mehr als ein halbes Dutzend Roboter wurden schon bei den vergeblichen Versuchen verbraucht, das Corium - das sind die geschmolzenen Brennstäbe, ihre Hüllen und was sonst noch alles an Installationen in die Kernschmelze eingeflossen ist - aufzusuchen. Die Strahlenbelastung ist bereits im Vorfeld so hoch, daß ein Mensch, wäre er ihr zwei Minuten ausgesetzt, nach kurzer Zeit sterben würde. Das alles ficht die japanische Regierung nicht an. Schritt für Schritt nimmt sie weitere Nuklearreaktoren ans Netz und erhöht damit das Katastrophenrisiko immer mehr.

Die japanische Regierung ist der Prototyp dessen, was der Philosoph und Publizist Robert Jungk in dem Buch "Der Atomstaat" (1977) und andere atomkritische Personen beschrieben haben. Die vermeintliche Fortschrittstechnologie führt zur Zerstörung der Lebensvoraussetzungen der Menschen und erzeugt Sachzwänge, die Bevölkerung vor den Gefahren der Kernspaltung zu schützen. Nach einem vor wenigen Jahren beschlossenen Gesetz (Kritiker sprechen von einem "Maulkorbgesetz") kann in Japan ein Whistleblower oder Journalist mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden, wenn die Veröffentlichung seiner atomkritischen Informationen vom Staat als Verletzung der nationalen Sicherheit interpretiert wird.


Fußnoten:

[1] http://www.greenpeace.org/international/en/press/releases/2017/Greenpeace-exposes-high-radiation-risks-in-Fukushima-village-as-government-prepares-to-lift-evacuation-order/

[2] http://www.asahi.com/ajw/articles/AJ201702280051.html

[3] Greenpeace hat im Februar 2017 den Report "No Return to Normal" herausgegeben:
http://www.greenpeace.org/japan/Global/japan/pdf/NRN_FINweb4.pdf

[4] https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/atomkraft/atomkraft_strahlenschutzgesetz_stellungnahme.pdf

[5] http://www.n-tv.de/panorama/Japan-hebt-Tsunami-Warnung-auf-article19148351.html

9. März 2017


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