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ATOM/055: Scharfe Kritik am UNSCEAR-Bericht zur Reaktorkatastrophe von Fukushima (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 670-671 / 28.Jahrgang, 4. Dezember 2014

Folgen von Fukushima
Unzureichend, unwissenschaftlich, unerheblich - das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung von Atomstrahlung

von Annette Hack



Keith Baverstock übt scharfe Kritik am Bericht des UNSCEAR zur Reaktorkatastrophe von Fukushima und fragt, ob man dieses Komitee noch braucht.

In einem Artikel für die Oktoberausgabe 2014 der japanischen Zeitschrift Kagaku (Naturwissenschaften)[1] erhebt der Strahlenschutzexperte und langjährige WHO-Funktionär Keith Baverstock[2] schwerwiegende Einwände gegen den Bericht, den das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung von Atomstrahlung (UNSCEAR) zu den eingetretenen und zu erwartenden Folgen der Kernschmelzen von Fukushima Dai'ichi erstellt hat.

Der Bericht firmiert zwar als Bericht von 2013,[3] lag aber im August 2014, als Baverstock sich mit ihm auseinandersetzte, noch nicht mit allen Anhängen vor. Diese Verzögerung sei, so Baverstock, teils auf Streitigkeiten unter den Kommissionsmitgliedern, teils auf Formulierungsschwierigkeiten zurückzuführen. Man wolle, so erfuhr er von Mitarbeitern des UNSCEAR, die Erzeugung falscher Vorstellungen vermeiden.

Der UNSCEAR-Bericht stelle sich die Aufgabe, die Höhe der Strahlenbelastungen und die gesundheitlichen Auswirkungen infolge des Unfalls zu bewerten und komme zu dem Schluß, es werde keinen erkennbaren Anstieg des Risikos bei den strahlenexponierten Teilen der Bevölkerung geben. Die Bewertung geschehe auf der Grundlage von Dosisabschätzungen der Effektivdosis und der absorbierten Schilddrüsendosis für das erste Jahr, die dann mittels Skalierungsfaktoren auf die in zehn bzw. in achtzig Jahren akkumulierten Dosen hochgerechnet würden. Daß der Unfall auch heute noch nicht abgeschlossen sei, werde zwar eingeräumt, aber nicht weiter berücksichtigt. "Dabei gibt es gegenwärtig keine bewährten Technologien, um weitere Freisetzungen zu verhindern, und anscheinend auch keine, um das radioaktive Strontium aus den riesigen, weiter anwachsenden Mengen an Kühlwasser zu entfernen, das in improvisierten Tanks auf dem Unfallgelände gelagert wird. Auch ist die Bergung der abgebrannten Brennstäbe aus den Abklingbecken noch nicht abgeschlossen", merkt Baverstock an.

Die Abschätzung der Bevölkerungsdosen hält Baverstock für nicht verläßlich, "ja sogar für Fiktionen". Aus den ersten Tagen und Wochen nach dem 11. März 2011 seien keine belastbaren Daten bekannt; was japanische Regierung und IAEA damals bekannt gegeben hätten, habe sich im Nachhinein stets als unzutreffend erwiesen. Das liege auch daran, daß das nach Tschernobyl eingerichtete internationale Katastrophenreaktionssystem in der Anfangszeit nach dem Unfall von Fukushima komplett versagt habe. "Aus dem Sumpf konzertierter Fehlinformationen" Dosen verläßlich zu rekonstruieren, hält Baverstock für unmöglich, egal wie gut die angewandten Rechenmodelle auch gewesen sein mögen. Das gelte nicht nur für den UNSCEAR-Bericht, sondern auch für den früheren WHO-Bericht. Die äußere Strahlenbelastung wurde aus der Bodenkontamination errechnet, die innere Belastung teilweise nach einem Ernährungsmodell konstruiert, das Lebensmittel "wie vermarktet" berücksichtigt, und eine Radiocäsium-Belastung von 10 Bq/kg annimmt, wenn keine anderen Informationen zur Verfügung stehen.[4]

Wesentlich für die Dosisabschätzung gerade in der ersten Zeit ist der Quellterm - hier wählte UNSCEAR den von der japanischen Atomenergieagentur (JAEA) publizierten, der bedeutend niedriger als andere Einschätzungen liegt. Baverstock merkt an, daß die JAEA, die damals für die Regulierung der Nuklearindustrie zuständig war, dem Betreiber TEPCO viele Lücken in der Sicherheitskultur durchgehen ließ und somit eine Mitverantwortung für die Folgen des Unfalls trägt. Diese Auswahl läßt, so Baverstock, "das augenscheinliche Gesamtziel des Berichts erkennen, die Schwere des Unfalls herunterzuspielen". Auch in anderen Punkten lasse sich dieser "Mangel an wissenschaftlicher Integrität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit" erkennen.

Für kritikwürdig hält Baverstock auch, daß im Hauptteil des Berichtes nur Durchschnittswerte für große Bevölkerungsgruppen angegeben werden, wodurch die Verteilung der Belastungen innerhalb der betrachteten Gruppen verwässert wird. Wende man die nach Tschernobyl entwickelte Methodik (UNSCEAR 2000, Anhang I) zum Beispiel auf die Region von Iitate-mura mit Gesamtcäsiumbelastungen des Boden von über 30 Millionen Becquerel pro Quadratmeter (Bq/m²) an, ergebe sich bis zur Evakuierung dieser Gemeinde am 12. April 2011 "allein für diesen ersten Monat eine innere Exposition von 12 bis 50 Millisievert". Im UNSCEAR-Bericht wird einjährigen Kindern eine Dosis von 0 bis 3,3 Millisievert (mSv) für die Zeit vor und während der Evakuierung zugeschrieben, moniert Baverstock.

Er macht zudem darauf aufmerksam, daß UNSCEAR eine Exposition durch Aktinide (Pu, Cm, Am) für nicht belegt hält. Diese seien aber bei Untersuchungen der sogenannten "schwarzen Substanz" innerhalb der Evakuierungszone und in hoch kontaminierten Gebieten außerhalb nachgewiesen worden. Die japanische Politik der Rücksiedlung von Evakuierten in ihre Heimatgemeinden, sobald die Ortsdosisleistung unter 20 mSv pro Jahr gefallen ist, sei - neben anderen Risiken - mit dem Risiko der Aktinidkontamination der Lunge, gerade für Kinder, verbunden. Für die Betroffenen sei das nicht erkennbar, gerade weil die Kontamination kleinräumig sehr unterschiedlich sei. Das gelte auch für städtische Siedlungen, die den UNSCEAR-Berechnungen offenbar zugrunde gelegen hätten, insbesondere aber für den ländlichen Raum.

Baverstock hält den UNSCEAR-Bericht zu den Folgen von Fukushima für "nicht wissenschaftlich unvoreingenommen, ja noch nicht einmal im strengen Sinne wissenschaftlich". Zunächst sei die Zusammensetzung der Kommission im Hinblick auf pro- und anti-nukleare Sympathien nicht ausgewogen. Kein einziges Mitglied sei ausgewiesener Kritiker der Atomenergie, dagegen seien einige Mitglieder als glühende Verfechter der Atomindustrie bekannt. Interessenkonflikte, wie etwa finanzielle Förderung durch die Nuklearindustrie, müßten bei UNSCEAR nicht offengelegt werden. Auch sei unklar, worin die besondere Expertise der Kommissionsmitglieder bestehe - der Bericht nenne weder Tätigkeiten, noch Publikationen der laut UNSCEAR "mehr als 80 führenden Wissenschaftler".

Des weiteren sei der Begriff "Kein erkennbarer Anstieg des Risikos" im Hinblick auf die Bevölkerungsgesundheit nicht vertretbar. Soll man etwa die Freisetzung toxischer Substanzen erlauben, bis die Statistiken ein deutlich angestiegenes Risiko zeigen? Wie sollen Strahlenexponierte es verstehen, daß nach UNSCEAR ihr "Krankheitsrisiko auf längere Sicht auf der Basis existierender Risiko-Modelle theoretisch hergeleitet werden kann", "eine angestiegene Inzidenz von Effekten in der Praxis mit den gegenwärtig verfügbaren Methoden in künftigen Krankheitsstatistiken wahrscheinlich nicht zu beobachten sein wird. Grund ist die Kombination der begrenzten Größe der exponierten Bevölkerung und der geringen Exposition, das heißt die Folgen sind relativ zur Grundlinie des Risikos und mit ihren Unsicherheiten zu klein." (UNSCEAR 2013, E 23, zit. n. Baverstock). Bei einem UNSCEAR-Bericht müßte es darum gehen, die möglichen Schäden zu beziffern und die Unsicherheiten bei der Bewertung klar zu machen, daran läßt Baverstock keinen Zweifel. Genau das aber geschieht nicht.

Der Bericht, so Baverstock, schätzt zwar die Kollektivdosis auf 48.000 Personen-Sievert, berechnet die damit verbundenen Krebsfolgen aber nicht. Auf Nachfrage erfuhr Baverstock, UNSCEAR lehne es, unter Berufung auf die ICRP (mit der sie sich personell überschneidet) seit langem ab, die Kollektivdosis zur Risikoabschätzung zu nutzen, denn bei sehr geringen Dosen und weit in die Zukunft hinein könnte das irreführende Ergebnisse liefern. Baverstock wendet ein, daß Dosen im Millisievertbereich nicht als 'sehr gering' zu bezeichnen sind. Darüberhinaus sei die Kollektivdosis in Personen-Sievert wertlos, wenn sie nicht genutzt werde, die erwartbaren Schäden zu berechnen, denn die Zahl an sich habe keine physikalische Bedeutung. In das Konzept der Kollektivdosis in Sievert seien schon Wichtungsfaktoren eingeflossen, die auch veränderbar seien. Das unterscheide es von der kollektiv absorbierten Dosis in Personen-Gray.

UNSCEAR behauptet nach Baverstock, es habe niemals eine Schwellendosis vertreten, und wer den UNSCEAR-Bericht von 2008 anders auslege, unterliege einem Mißverständnis. Das Mißverständnis zeitige Folgen, denn die japanische Regierung zitiere eben diesen Bericht, um zu rechtfertigen, daß Gesundheitsfolgen unter 100 mSv zu vernachlässigen seien, folglich Menschen in einer mit 20 mSv pro Jahr belastenden Umgebung leben könnten. UNSCEAR müßte diese Verwendung ihrer Aussagen bekannt sein, meint Baverstock. Um so mehr empört es ihn, daß auch im Bericht von 2013 festgehalten wird: "Die Kommission nahm zur Kenntnis, daß (...) der gegenwärtige Wissensstand zum Krebsrisiko aufgrund von Dosen um 100 mSv oder weniger recht begrenzt ist, wenngleich einige, aber nicht alle Daten vereinbar damit waren, daß das Krebsrisiko durch das LNT-Modell nicht grob unterschätzt wird."[5] Die Aussage "einige, aber nicht alle Daten" impliziere, so Baverstock, eine Art Symmetrie positiver und negativer Evidenz. Methodische Fehlerfreiheit vorausgesetzt, können Studien auch wegen mangelnder statistischer Kraft negative Ergebnisse liefern. Daher müssten Studien, die einen positiven, signifikanten Effekt zeigen, stärker gewichtet werden. Die zitierte Formulierung sei hinterhältig und habe in einer wissenschaftlichen Arbeit nichts zu suchen. Baverstock hält die Linearität bis hinunter zu einer akkumulierten Dosis von etwa 10 Milligray für zweifelsfrei abgesichert. Diese Dosis entspricht der akkumulierten Dosis eines Zehnjährigen aus nichts weiter als der natürlichen Hintergrundstrahlung.

Wenn die Vereinten Nationen schon einen großen Aufwand betreiben, sollte auch eine zuverlässige, nachvollziehbare Risikoabschätzung herauskommen, meint Baverstock. Bei dem vorliegenden Bericht könne der unvoreingenommene Leser nur raten, in welchem Ausmaß diese Ressourcen genutzt worden seien, "die Evidenz um die erwünschten Schlußfolgerungen herum zu arrangieren". Er selbst habe keinen Zweifel, daß der Bericht keine zuverlässige, mit der nötigen wissenschaftlichen Sorgfalt erstellte Risikoeinschätzung sei.

Nicht nur für Staaten, die Atomanlagen betreiben, sondern auch für deren Nachbarländer sei es außerdem wichtig, Faktoren zu erkennen, die den Ablauf von Unfällen beeinflussen. Im Fall der Katastrophe von Fukushima sind es nach Auffassung von Baverstock drei Faktoren, die eine wesentlich höhere Belastung der Bevölkerung verhindert haben: a) der Unfall ereignete sich während der Arbeitszeit und nicht in der Nacht, bei reduzierter Belegschaft; b) die Windrichtung war günstig, so daß ein großer Teil der in die Luft abgegebenen Radioaktivität auf den Pazifik geblasen wurde; c) es gab relativ wenig Niederschlag, als die radioaktiven Wolken über Land zogen.

UNSCEAR sei aus Besorgnis über die weltweiten gesundheitlichen Folgen der oberirdischen Atomwaffentests von den Vereinten Nationen gegründet worden. Heute liege der Schwerpunkt auf der Untersuchung von Gesundheitsgefahren durch Nuklearunfälle, die auch Staaten betreffen könnten, die keine Atomanlagen betreiben. Wenn die Expertise von UNSCEAR überwiegend von den Nuklearstaaten gestellt werde, seien Böcke und Gärtner einunddieselben. UNSCEAR könne sich aus den Gesundheits- und politischen Problemen, die mit der Atomkraft zusammenhängen, nicht heraushalten. Da man das aber doch versuche, habe man wenig mehr als Propaganda für eine Industrie erreicht, die Unfälle wie den von Fukushima zustande gebracht hat. Den Vereinten Nationen empfiehlt Baverstock, sie sollten einen wirklich unabhängigen und umfassenden Bericht über die Folgen des Unfalls von Fukushima für Gesundheit und Umwelt in Auftrag geben, der sich auf eine breitere - auch atomkritische - Expertise stützt, und überlegen, ob man UNSCEAR in Zukunft noch braucht.


Anmerkungen

1. Keith Baverstock: 2013 UNSCEAR Report on Fukushima: a critical appraisal; KAGAKU, Oct. 2014, Vol.84, No.10
http://www.iwanami.co.jp/kagaku/Kagaku_201410_Baverstock.pdf

2. Nach eigenen Angaben war Baverstock beim britischen Medical Research Council Anfang der 1970er Jahre mit der Untersuchung des Unfalls von Windscale und der Formulierung von Notfall-Referenzwerten für Reaktorunfälle befaßt, war später bei der WHO beteiligt an der Bewältigung des Unfalls von Tschernobyl und an der Entwicklung eines Katastrophenschutz- und Reaktionsnetzwerks unter Führung der IAEA, insbesondere dem Aufbau eines WHO-Notfallmaßnahmenzentrums in Zusammenarbeit mit der finnischen Behörde für Atomsicherheit und Strahlenschutz 1998. Zur Zeit lehrt er an der Abteilung für Umweltwissenschaften der Universität Ost-Finnland in Kuopio.

3. Teil A des Berichts war am 2. April 2014 veröffentlicht worden.
http://www.unscear.org/docs/reports/2013/1385418_Report_2013_Annex_A.pdf.
Vgl. auch die Kritik der deutschen Sektion der IPPNW, Strahlentelex Nr. 656-657/2014, S. 11-12.
www.strahlentelex.de/Stx_14_656-657_S11-12.pdf

4. Baverstock irrt in seiner Anmerkung, der Grenzwert für vermarktete Lebensmittel liege bei 100 Bq/kg. Vor dem April 2012 lag der Grenzwert für die zulässige Gesamtcäsiumbelastung bei 500 Bq/kg und galt für das Grundnahrungsmittel Reis auch noch nach diesem Termin. (Anm. d. Autorin)

5. LNT: linearer Anstieg, keine Schwelle. Anm. d. Übers.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_14_670-671_S01-03.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Dezember 2014, Seite 1-3
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2015


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