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KATASTROPHEN/065: Wir werden unser Leben damit verbringen, unser eigenes Grab zu schaufeln (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 634-635 / 27. Jahrgang, 6. Juni 2013

Folgen von Fukushima
"Wir werden unser Leben damit verbringen, unser eigenes Grab zu schaufeln"

von Annette Hack



Die Evakuierungszonen um Fukushima Daiichi wurden jetzt 2 Jahre nach dem Katastrophenbeginn neu definiert und die ehemaligen Bewohner sollen zur Rückkehr animiert werden.


Am 28. Mai 2013 trat eine Neueinteilung der Evakuierungszonen um die havarierten Atomkraftwerke von Fukushima Daiichi in Kraft. Um den wirtschaftlichen Wiederaufbau anzukurbeln, haben die Behörden beschlossen, die Evakuierungszone von 20 Kilometern um die havarierten Anlagen wieder zu öffnen. Darauf machen der in Japan lebende französische Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Thierry Ribaut und Cécile Asanuma-Brice jetzt in einem Bericht aufmerksam. [1]

Demnach gibt es die 'Verbotszone' mit den Ortschaften im Umkreis von weniger als 10 Kilometern um den Reaktor, die nur mit Genehmigung und in Schutzkleidung betreten werden durfte, sowie die 'Evakuierungszone' im restlichen Gebiet nicht mehr. Stattdessen gibt es nun die 'Zone noch unbestimmter Rückkehr' und die 'Zone der Vorbereitung auf die Aufhebung der Evakuierungsanordnung'. Die 'Zone noch unbestimmter Rückkehr' wird charakterisiert als Gebiet mit äußeren Strahlenbelastungen über 50 Millisievert pro Jahr (mSv/Jahr). Zudem soll dort nicht zu erwarten sein, daß in den nächsten 5 Jahren die Belastungen auf 20 mSv/Jahr absinken werden. Unterhalb 20 mSv/ Jahr hält die japanische Regierung die "Rückkehr zum normalen Leben" für möglich. 20 mSv/Jahr ist in Deutschland Grenzwert für beruflich strahlenbelastete Personen. In der 'Zone der Vorbereitung' soll "eine Rückkehr zur Normalität innerhalb von 2 Jahren abzusehen" sein. Die Evakuierten dürfen sich hier frei bewegen und ihren Berufen und Geschäften nachgehen. Sobald die radioaktive Belastung, die hier noch zwischen 20 und 50 mSv/Jahr liegt, auf unter 20 mSv/Jahr zurückgeführt ist, sollen die Evakuierten auch wieder ohne Einschränkungen dort wohnen dürfen.

Am Tag nach dem Unfall von Fukushima, am 12. März 2011, waren die 11.500 Einwohner von Okuma-machi evakuiert worden, das circa 5 Kilometer westlich der Reaktoren liegt. Und ebenso 65.000 Menschen aus acht anderen Gemeinden in weniger als 20 Kilometern Entfernung vom Kraftwerk.

Zunächst wurden die größtenteils strahlenbelasteten Menschen in Sporthallen und anderen Behelfsunterkünften untergebracht, später dann in sogenannte "provisorische Wohnungen", die vom Staat errichtet wurden. Das Provisorium erwies sich als dauerhaft, berichtet jetzt Ribaut. Den Evakuierten sei eine vorläufige finanzielle Entschädigung gezahlt worden, die die Präfekturregierung nun zurückfordere, um sie in Form von monatlichen Zuwendungen auf unbestimmte Zeit neu zu verteilen.

Es wirke zunächst einmal so, als habe sich mit der neuen Zoneneinteilung nicht viel geändert, schreibt Ribaut. Allerdings sei die verbotene Zone jetzt sehr viel kleiner als vorher. Auf diese und andere Weise werde ein Gefühl der Sicherheit und der wiedergewonnenen Bewegungsfreiheit verbreitet und die Gegend um das Kraftwerk Fukushima Daiichi wieder bevölkert.

Als die Behörden den Evakuierten aus Okuma mitteilten, daß sie nun bald kommen und gehen könnten, wie sie wollten, wandten sich einige von ihnen an die Justiz. Sie führten einen Prozeß, damit Okuma - angesichts der festgestellten hohen Belastung der einzelnen Häuser und der Stadt insgesamt unbewohnbar - wieder in die 'Zone noch unbestimmter Rückkehr' eingeordnet wird, und nicht in diejenige, in der jeder kommen und gehen kann, als sei nie etwas geschehen. Den Prozeß haben sie gewonnen, und leben nun weiter in ihren provisorischen Häuschen in Aizu Wakamatsu, etwa 100 Kilometer vom Kraftwerk entfernt.

Zusammen mit einigen Nachbarn, die meist älter als 70 Jahre alt sind, berichtete das Ehepaar Kowata von seinen Lebensbedingungen. Thierry Ribaut und Cécile Asanuma-Brice zitieren wie folgt:

"Wir leben jetzt schon zwei Jahre hier. Täglich fragen wir uns, wie es weitergehen kann. Was wir bisher versucht haben, um hier rauszukommen, hat nichts gebracht. Wir können nichts wiederaufbauen. Unsere Kinder müßten uns aufnehmen, aber das macht Schwierigkeiten."

"Diejenigen von uns, die noch arbeiten können, haben keine Arbeit mehr. Zuhause konnten wir unser eigenes Gemüse anbauen, die Felder bestellen und unseren Reis essen. Und nun müssen wir alles kaufen. Das macht das Leben schwieriger. Wenn das Problem der Entschädigung nicht bald geregelt wird, wie sollen wir aus dieser Situation herauskommen?"

"Und wie sollen Eltern mit kleinen Kindern mit den 100.000 Yen (ca. 750 Euro) pro Monat und Person auskommen? Man beschimpft uns, weil wir dieses Geld bekommen, aber wir müssen doch auch Strom, Wasser und alles andere davon bezahlen. Es reicht hinten und vorne nicht. Wir sind 'Opfer', 'Flüchtlinge' und werden als solche abgelehnt. Damit wir nicht diskriminiert werden, haben wir sogar die Nummernschilder unserer Autos ausgetauscht."

"Aber wenn wir nach Hause, nach Okuma, zurückfahren, finden wir dort eine unwirklich scheinende Situation. Auch wenn das unser Haus ist, es wirkt, als ob wir nie dort gelebt hätten. Diebe sind in die Häuser eingedrungen. Sie essen, sie holen die Futons raus und schlafen auf ihnen. Sie kippen den Hausaltar für unsere Ahnen um. Offenbar suchen sie Geld. Ihre Fußabdrücke sehen wir auf dem Boden."

"Neulich erst hat eine Gruppe von vier, fünf Personen aus allen Fahrzeugen das Benzin abgepumpt. Sie beschädigen die Fahrzeuge und alles, was darin ist. Sie stehlen die Fernseher. Es macht uns verrückt, daß wir geflohen sind, und nun alles den Räubern in die Hände fällt."

"Unsere Häuser sind unkrautüberwuchert. Ratten und Mäuse laufen überall umher. Marder fressen alles. Es gibt Wildschweine. Schwalben, Sperlinge und Krähen sind verschwunden, weil sie sich nicht mehr aus den Abfällen der Bewohner ernähren können. Die Lachse im Fluß treiben mit dem Bauch nach oben."

"Wenn die Behörden nicht bald mit dem Bau neuer Häuser beginnen, müssen wir auf Dauer in diesen Unterkünften hier bleiben. Die Präfektur sollte uns mal fragen, was wir überhaupt wollen, und nicht einfach irgendetwas anfangen. Jetzt will sie uns in 5-stöckige Häuser einsperren."

"Nach dem Erdbeben in Kobe war das doch genauso. Die Leute wurden in Kaninchenställe von 5 oder 6 Etagen umgesiedelt. Sie haben sich dort so elend gefühlt, daß sie gestorben sind. Wir haben uns Sozialwohnungen angeschaut, in denen es verboten ist, Haustiere zu halten. In den provisorischen Häusern hier können wir wenigstens Katzen und Hunde haben. Die können wir doch nicht einfach hierlassen."

"Zuhause in Okuma mußte ich zwei Hunde zurücklassen. Der eine ist tot, nur sein Kopf ist übriggeblieben. Neulich, als ich wieder hinfuhr, bin ich mit dem anderen spazierengegangen. Plötzlich blieb er stehen und seufzte. Das ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich einen Hund seufzen hörte. Der Hund ist noch jung, aber er ist krank. Er verliert Blut. Der Tierarzt sagte uns, der Hund wäre stark kontaminiert worden."

"Wir haben uns ja früher zusammen an die Behörden gewandt, damit wir unsere Häuser erhalten und saubermachen können. Aber wir werden wohl nicht zurückkehren können. Die Radioaktivität ist so hoch, daß niemand dort leben kann. Da, wo ich wohne, ist sie in den letzten beiden Jahren sogar stark angestiegen. An den Fenstern von 100 auf 200 Mikrosievert pro Stunde, im letzten März sogar auf 300 Mikrosievert pro Stunde. Vor dem Haus war die Strahlung auf 7 Mikrosievert pro Stunde gefallen, aber hinten ist sie wieder auf 20 Mikrosievert pro Stunde angestiegen. Und die Berge sind natürlich auch noch sehr hoch belastet."

"Unsere Generation wird nicht nach Okuma zurückkehren. Unsere kleinen Enkel erinnern sich schon nicht mehr an ihr Haus."

"Wann werden die Verantwortlichen endlich einmal nützliche Entscheidungen treffen? Ganz abgesehen davon, daß sie ja kontaminiertes Wasser in den Boden kippen wollen. In so eine Umwelt kann doch keiner zurück. Auch wenn man uns das sagt, noch in 50 Jahren wird keiner dort leben können."

"Das ist noch schlimmer als Tschernobyl. Was wird wohl aus uns? Sollen wir hier bleiben, ohne irgendeine Lösung? Wir verbringen den Rest unseres Lebens damit, unser eigenes Grab zu schaufeln."



Anmerkung

[1] Thierry Ribaut, Cécile Asanuma-Brice: Fukushima: «Notre vie, désormais, c'est de creuser notre tombe»
http://www.rue89.com/rue89planete/2013/05/22/fukushimavie-desormais-cest-creusertombe-242483


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_13_634-635_S09-10.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Juni 2013, Seite 9-10
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2012