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KATASTROPHEN/131: Fukushima - Messungen zeigen deutlich höhere Kontaminationen als Simulationsrechnungen (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
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Nr. 698-699 / 30. Jahrgang, 4. Februar 2016 - ISSN 0931-4288

Folgen von Fukushima
Messungen zeigen deutlich höhere Kontaminationen als Simulationsrechnungen

Von Thomas Dersee


Zusätzliche Kontamination durch Radiocäsium und Strontium-90 in Minamisoma-shi nach Schutt- und Erdarbeiten auf dem Gelände von Fukushima Dai'ichi im August 2013

Minamisoma-shi ist eine Verbundgemeinde aus mehreren früher selbständigen ländlichen Kleinstädten. Entsprechend ist das Siedlungsbild: lockere Bebauung wechselt sich ab mit eher städtischen Zentren, dazwischen Reisfelder, Obstplantagen, Gewächshäuser und andere Zeugnisse kommerzieller Landwirtschaft. Die Gemeinde liegt etwa 30 Kilometer nördlich der Unfallstelle von Fukushima Dai'ichi. Das Gebiet der Gemeinde wird in den meisten Teilen offiziell als gering kontaminiert angesehen.

Diese Ansicht wurde bereits im Dezember 2011 durch zwei pflanzliche Proben in Frage gestellt, die einen hohen Gehalt an Strontium-90 und ein Verhältnis Plutonium-239 zu Plutonium-240 aufwiesen, wie es für Reaktorplutonium charakteristisch ist. Weitere derartige Funde mit unerwartet hohem Verhältnis von Strontium-90 zu Cäsium-137 und von Plutonium mit "Reaktorfingerabdruck" kamen im Laufe der Zeit hinzu.

Da der havarierte Reaktor als stabilisiert gilt, müssen Befunde, die nicht in das bisherige Bild der Verteilung der radioaktiven Kontamination durch den Unfall passen, erklärt werden.

Eine international zusammengesetzte Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung des Japaners Akio KOIZUMI von der Universität Kyoto untersuchte die Hypothese, daß - speziell im August 2013 - Schutträumarbeiten auf dem Kraftwerksgelände radioaktiv belasteten Staub aufgewirbelt hätten, der dann durch Wind und Niederschlag die am südlichen Rand von Minamisoma-shi festgestellten zusätzlichen Kontaminationen verursacht hätte. [1]

Die Wissenschaftler nutzten dazu die Daten von seit Oktober 2012 betriebenen Luftfiltern in der weiteren östlichen und nordöstlichen Umgebung des Unfallgeländes, in denen der Staub aufgefangen und wöchentlich analysiert wird. Typische Werte werden seither mit zwischen 0,04 und 0,95 Milli-Becquerel Cäsium134 plus Cäsium-137 pro Kubikmeter Luft gemessen (mBq/m³). Vor dem Unfall von Fukushima lagen sie im Mikro-Becquerel-Bereich - also um den Faktor 1.000 geringer -, hauptsächlich Restbestände aus den oberirdischen Atomwaffentests, wie die Autoren schreiben.

Im Mai und Juni 2013 verzeichnete das in Haramachi (Minamisoma-shi) aufgestellte Geräte deutlich Spitzen der Luftbelastung um die 5 Milli-Becquerel, und am 19. August 2013 einen Höchstwert mit 26,3 Milli-Becquerel pro Kubikmeter Luft.

Zeitgleich waren um den Reaktor 3 von Fukushima Dai'ichi herum Erd- und Schuttarbeiten durchgeführt worden, wobei zwei Arbeiter hohen Strahlendosen ausgesetzt waren. Die japanische Atomaufsichtsbehörde NRA hatte die bei diesen Arbeiten freigesetzte Gesamtradioaktivität abgeschätzt und mit 110 Milliarden Becquerel angegeben. [2]

Unter Zugrundelegung eines daraus errechneten Quellterms von 77 Milliarden Becquerel für Cäsium-137 und mit Hilfe eines Dispersions- und Niederschlagssimulationsmodells (Weather Research and Forecasting/Chemistry; Version 3.6.1) fanden die Forscher nach Abgleich mit tatsächlich gemessenen Werten der Luftfilter heraus, daß die NRA die Freisetzungen um mindestens das 3,61-fache unterschätzt haben dürfte. Nach NRA-Schätzungen hätten in dem Luftfilter in Haramachi/Minamisoma-shi über die Woche zwischen dem 15. und 22. August 2013 gemittelt, nur 5,09 mBq/m³ Cäsium-137 gefunden werden dürfen, tatsächlich waren es 18,4 mBq/m³.

Für den Luftfilter in Tamano/Soma-shi, fast 50 Kilometer nordwestlich des Reaktorgeländes gelegen, ergab sich eine Unterschätzung um den Faktor 4,35.

Die Präfektur Fukushima gibt monatliche Meßdaten zum zusätzlichen Niederschlag von Cäsium-137 an ausgewählten Meßpunkten bekannt. Diese haben die Forscher mit der eigenen Modellierung verglichen, die sie zuvor um den Faktor 3,61 korrigiert hatten. In Haramachi/Minami-soma wurde demnach im August 2013 ein Niederschlag von 190 Becquerel Cäsium-137 pro Quadratmeter Bodenfläche (Bq/m²) gemessen. Die Simulation hätte nur einen Wert von 116 Bq/m² erwarten lassen, das sind 61 Prozent des tatsächlichen Wertes.

Am Meßpunkt Koriyama in der Gemeinde Futaba-machi, 3 Kilometer vom Reaktorgelände entfernt, gingen im August 2013 sogar 24.000 Bq/m² Cäsium-137 nieder. Hier hatte auch die korrigierte Simulation nur 702 Bq/m² erwartet, knapp 3 Prozent des gemessenen Wertes.

Im Zentrum der simulierten radioaktiv belasteten Staubwolke, im südlichen Minamisoma, haben die Forscher zusätzlich 21 Bodenproben entnommen und auf Cäsium-134, Cäsium-137, Plutonium-239 und Plutonium-240 sowie Strontium-90 untersucht.

Leider werden nur die gefundenen Cäsiumwerte, das Verhältnis der beiden Plutoniumwerte und aus nicht diskutierten Gründen Kalium-40 mitgeteilt. [3] Die Aussagen zum Strontium-90 beschränken sich auf eine ausführliche Darstellung des Nachweisverfahrens und eine einzige Angabe im Abstract. Der höchste gefundene Wert liegt demnach bei 78 ± 8 Becquerel pro Kilogramm Erdboden (Bq/kg); das Verhältnis Strontium-90 zu Cäsium-137 sei mit 0,04 (= 4:100) sehr hoch, wird erklärt. Solche Werte finde man sonst nur in der nächsten Umgebung des Reaktors, schreiben die Autoren.

Das japanische Ministerium für Education, Culture, Sports, Science and Technology (MEXT) hatte zuvor die Ansicht vertreten, das Verhältnis Strontium-90 zu Cäsium-137 in dem auf dem Erdboden abgelagerten Fallout liege überwiegend bei 1:1000 (= 0,001). [4]


Literatur

[1] Steinhauser, Georg; Niisoe, Tamon; Harada, Kouji H.; Shozugawa, Katsumi; Schneider, Stephanie; Symal, Hans-Arno; Walther, Clemens; Christl, Marcus; Nanba, Kenji; Ishikawa, Hirohiko und Koizumi, Akira: Post-Accident Sporadic Releases of Airborne Radionuclides fom the Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant Site. Environmental Science and Technology Vol. 49 (2015), 14028-14032. DOI: 10.1021/acs.est5b03155.
http://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/acs.est.5b03155
Die Autorinnen und Autoren gehören zu folgenden Institutionen: Colorado State University, USA; Universität Kyoto, Japan; Universität Tokyo, Japan; ETH Zürich, Schweiz; Leibniz Universität Hannover, Deutschland; Universität Fukushima, Japan. Finanzielle Unterstützung leisteten die Japan Society for the Promotion of Science, Bousaiken sowie die Nuclear Regulatory Commission der USA.

[2] www.nsr.go.jp/data/000051154.pdf (in japanischer Sprache; hier zitiert nach dem besprochenen Artikel)

[3] Supplementary information, Figure S2, Table S1 und Table S3

[4] Das Verhältnis Strontium-90 zu Cäsium-137 ist im Gebiet der Stadt Soma besonders hoch. Strahlentelex 618-621 v. 4.10.2012, S. 2-5,
www.strahlentelex.de/Stx_12_618-621_S02-05.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_16_698-699_S04-05.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Februar 2016, Seite 4 - 5
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. März 2016

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