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LATEINAMERIKA/095: Gefährlich nah am Abgrund, Klimawandel bringt den Hunger zurück (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Oktober 2014

Lateinamerika: Gefährlich nah am Abgrund - Klimawandel bringt den Hunger zurück

von Diana Cariboni


Bild: © Mario Osava/IPS

Verkehrsstau in Jaciara in Brasilien, verursacht durch Straßenarbeiten an der BR-364
Bild: © Mario Osava/IPS

Montevideo, 6. Oktober (IPS) - "Wir könnten die letzte Generation von Lateinamerikanern sein, die hungern müssen", meinte unlängst Raúl Benítez, ein regionaler Vertreter der Weltlandwirtschaftsorganisation FAO. Tatsächlich sind nach den jüngsten Zahlen nur noch 4,6 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Das hört sich gut an, wäre da nicht noch die zweite Seite der Medaille: So wird der Klimawandel den Subkontinent bis spätestens 2030 gefährlich nah an den Abgrund neuerlicher Ernährungskrisen rücken.

Lateinamerika und die Karibik, Heimat von fast 600 Millionen Menschen, besitzen ein Drittel aller weltweiten Frischwasserreserven und mehr als ein Viertel des Produktivlandes. Sie sind zudem die weltgrößte Netto-Nahrungsmittelexportregion der Erde und verbrauchen lediglich einen Bruchteil ihres landwirtschaftlichen Potenzials für den Verbrauch und den Export. Darauf wird in einem Buch hingewiesen, das die Interamerikanische Entwicklungsbank in Partnerschaft mit der privatwirtschaftlichen Denkfabrik 'Global Harvest Initiative' in diesem Jahr herausgegeben hat.

Dennoch lebt fast ein Viertel der Landbevölkerung der Region von weniger als zwei US-Dollar pro Tag. Außerdem ist der Subkontinent für Naturkatastrophen wie Erdbeben, Wirbelstürme, Überschwemmungen und Dürren besonders prädestiniert. Die globale Erwärmung stellt für die Zielsetzung der internationalen Gemeinschaft, Armut und Hunger auszurotten, eine große Gefahr dar. Veränderungen der Niederschlagsmuster, der Böden und der Temperaturen setzten die landwirtschaftlichen Systeme schon jetzt unter Druck.


Bis 2050 20 Prozent mehr Hungernde

Derzeit sind mehr als 800 Millionen Menschen weltweit vom Hunger bedroht. Angesichts der verheerenden Folgen für Ernten und Lebensgrundlagen geht man davon aus, dass die Zahl bis 2050 um 20 Prozent angestiegen sein wird, wie jüngste UN-Projektionen nahe legen. Die Veränderungen bei den Temperaturen und Niederschlagsmustern könnten die Nahrungsmittelpreise bis 2050 um über 80 Prozent in die Höhe treiben und somit Armut und Ungleichheit erneut beflügeln.

Der Entwicklungsorganisation 'Oxfam International' zufolge ist auch ein drastischeres Szenario vorstellbar. So könnten Hitze- und Wasserkrisen die landwirtschaftlichen Erträge zwischen 2030 und 2049 um 25 Prozent zurückfahren. Der Klimawandel wird vor allem die kleinbäuerlichen und Familienfarmen treffen, die mehr als die Hälfte der regionalen Nahrungsmittel produzieren und die nicht über die finanziellen Mittel verfügen, die unvorhersehbaren Wetteranomalien zu kompensieren.

Trotz dieser Gefahren sind Nachhaltigkeitsstrategien noch längst nicht am Horizont erkennbar. Die treibenden Kräfte des Wachstums sind exportorientierte Rohstoffe, und während einige Sektoren gewisse Fortschritte beim Aufbau der Wertschöpfungskette, Technologien und Innovationen vorweisen können, gilt die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen nach wie als Schlüssel für den wirtschaftlichen Aufschwung der Region.

Bis 2011 hatten Rohstoffe und Waren einen Anteil an den regionalen Exporten von 60 Prozent. 2000 waren es noch 40 Prozent gewesen. Gleichzeitig führte diese Zunahme der Rohstoffexporte zu einem Ersatz der einheimischen Industrieprodukte durch Importgüter, was sich wiederum negativ auf die Fertigungsindustrie auswirkte.

In den ländlichen Gebieten konkurrieren Modelle einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft mit extensiven Monokulturen, auf den Gensaaten ausgebracht werden, in einer Art David-gegen-Goliath-Kampf um Land.

In Paraguay, dem viertgrößten Sojabohnenexporteur der Welt, besitzen 1,6 Prozent der Landeigentümer 80 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen. In Guatemala sind acht Prozent der Landeigner in Besitz von 82 Prozent der landwirtschaftlichen Böden, in Kolumbien konzentrieren sich 80 Prozent der produktiven Flächen in der Hand von 14 Prozent der Landbesitzer.


Böser Kreislauf

Die Landwirtschaft und die durch sie bedingte Entwaldung sind für einen größeren Ausstoß der Klimagase in Lateinamerika verantwortlich. Weitere Faktoren, die zu diesem Problem beitragen, kommen hinzu. Brasilien beispielsweise hat sich längst dem Club der großen Verschmutzer angeschlossen. Mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe ist das Land bereits für einen Großteil der CO2-Emissionen mitverantwortlich. Und während die Rohstoffindustrie boomt, wächst die Nachfrage nach neuen Autobahnen, Schienennetzen und Häfen, was wiederum die Regierungen unter Druck setzt, sogenannte logische Blackouts zu verhindern.

Die Nachfrage nach Energie nimmt gewaltige Formen an. Sie kommt nicht nur von der Industrie, sondern auch von Millionen Menschen, die der Armut entkommen wollen und als Verbraucher größere Bedürfnisse entwickeln. Die Energienachfrage der Region im Zeitraum 2010 bis 2017 wird sich um jährlich fünf Prozent nach oben schrauben.

Erwartet wird zudem, dass die Region eine neue Obergrenze überschreiten wird, was die Verbrennung fossiler Brennstoffe betrifft. Das gilt insbesondere für Länder wie Argentinien, Brasilien und Mexiko, die bestrebt sind, ihre eigenen politischen, finanziellen und technischen Herausforderungen zu meistern, indem sie Rohstoffe in geologischen Formationen wie Vaca Muerte in Argentinien oder das Öl, das in der Nähe des brasilianischen Kontinentalschelfs unterhalb von Salzschichten lagert, bergen.

Es lässt sich nur schwer vermitteln, dass eine Region, die so reich an natürlichen Ressourcen ist, kein Recht haben sollte, diese nach dem Angebot-und-Nachfrage-Modell auszubeuten, insbesondere, wenn sie Ländern wie Bolivien dabei helfen konnte, die extreme Armut von 38 Prozent im Jahr 2005 auf 20 Prozent 2013 zu drücken.

Doch Experten warnen, dass der Weg der Nichtnachhaltigkeit und die Auswirkungen des Klimawandels alle sozialen Zielsetzungen unterwandern könnten. In Guatemala bringt die schlimmste Dürre der letzten 40 Jahre 1,2 Millionen Menschen in Gefahr, in den kommenden Monaten Hunger zu erleiden. Diejenigen, die am wenigsten zur globalen Erwärmung beigetragen haben, sind ausgerechnet jene, die am stärksten betroffen sein werden.

Ein UN-Papier aus jüngerer Zeit, das die Aktivitäten zusammenfasst, die aus einem Aktionsprogramm hervorgingen, das 1994 auf der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) in Kairo verabschiedet wurde, kommt zu dem Schluss, dass nur "ein Drittel der Weltbevölkerung Konsummuster vorweist, die zu den Emissionen beitragen".

Unter einer Milliarde Menschen von diesem Drittel hat einen größeren Anteil und eine kleine Minderheit dieser Personengruppe ist verantwortlich für den größten Anteil am Klimawandel. Und es werden die ärmsten Menschen sein, die die Folgen zu tragen haben. Lateinamerika, das als nächster globaler Brotkorb gehypt wird, muss unbedingt lokal und global aktiv werden, um Nachhaltigkeit als Entwicklungsziel in den kommenden Jahren zu beherzigen. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/10/latin-america-on-a-dangerous-precipice/

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IPS-Tagesdienst vom 6. Oktober 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2014