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ÖKOSYSTEME/120: Klimawandel - Was wird aus der Arktis? (WWF Magazin)


WWF Magazin, Ausgabe 1/2022
WWF Deutschland - World Wide Fund For Nature

Was wird aus der Arktis?

von Eva Klebelsberg und Dr. Max Boxleitner, WWF


Nirgendwo sonst auf der Erde ist der Klimawandel so deutlich sichtbar wie nördlich des Polarkreises. Die mittlere Lufttemperatur dort ist in den vergangenen 50 Jahren um mehr als drei Grad Celsius gestiegen. Warum ist das so? Und wie können wir der Natur dort helfen?


In der Arktis wird normalerweise ein Großteil des sommerlichen Sonnenlichts durch Schnee und Eis reflektiert und trägt daher nicht zur Erwärmung der Erdoberfläche bei. Doch mit steigenden Temperaturen werden immer mehr Flächen schnee- und eisfrei - und beschleunigen so die Erwärmung. Diese und weitere Rückkopplungen führen dazu, dass der Temperaturanstieg in der Arktis zwei- bis dreimal stärker ausfällt als im globalen Mittel. In den WWF-Projektgebieten in der russischen Arktis sind wir Zeugen dieser Veränderung. Das Meereis schmilzt - und damit schwindet die Lebensgrundlage nicht nur für Eisbären und Walrosse, sondern für ein ganzes Ökosystem. Gleichzeitig wird der Zugang für Schifffahrt, Fischerei und Rohstoffabbau einfacher. Das Auftauen des Dauerfrostbodens führt zu Schäden an Straßen, Gebäuden und Industrie und setzt zusätzliches klimaschädliches Methan und CO2 frei. In der arktischen Tundra verschiebt sich die Baumgrenze nach Norden. Dadurch werden Ökosysteme und an sie speziell angepasste Arten verdrängt - wie der Polarfuchs durch den Rotfuchs.

Mit diesen gravierenden Veränderungen müssen nun alle arktischen Tier- und Pflanzenarten klarkommen. Auch Rentiere: Die vermutlich am weitesten wandernden Landsäugetiere der Erde spielen eine wichtige Rolle für das Ökosystem der Tundra. Doch immer mehr Öl- und Gaspipelines, Straßen und Zäune zerschneiden ihren Lebensraum und behindern die Wanderung der Herden. Durch die immer früher einsetzende Eisschmelze ertrinken viele Jungtiere beim Durchqueren der kilometerbreiten Flüsse. Unter den Veränderungen - Pflanzen blühen früher, Insekten schlüpfen zu anderen Zeiten - leiden auch die Zugvögel. Insgesamt sind 279 Arten bekannt, die teilweise riesige Entfernungen zurücklegen, um im Sommer in der Arktis zu brüten. Auch Lemming-Populationen gehen drastisch zurück, weil ihre Baue im Schnee zu nass werden und die Tiere sterben.


Zerstörerische Hitzewellen

Forscher:innen des russischen Geophysikalischen Observatoriums Voeikov in Sankt Petersburg und des WWF Russland haben 2018 mit komplexen Modellen die Folgen des Klimawandels in der russischen Arktis simuliert. Sie befürchten, dass in der Arktis besonders Hitzewellen zunehmen werden. Solche Ereignisse werden noch plötzlicher und zerstörerischer wirken als das vergleichsweise langsame Schmelzen des Meereises. Abhängig von der zukünftigen Begrenzung des CO2-Ausstoßes halten die Forscher:innen in der Arktis um durchschnittlich 15 Grad Celsius wärmere Winter zum Ende des Jahrhunderts für möglich (im Vergleich zu den Durchschnittstemperaturen von 1990 bis 1999). Das bedeutet: Klimaschutz ist Arktisschutz.

Laut Observatorium wird es regional große Unterschiede geben. Dort, wo die Veränderungen weniger heftig ausfallen werden, können wir daher gegensteuern. Dort will der WWF große Rückzugsgebiete für Arten schaffen. Die Arktis ist eines der letzten großen Wildnisgebiete auf unserem Planeten. Die Natur kann hier einen Weg finden, mit den Veränderungen fertigzuwerden - wenn man sie lässt. Deshalb setzen sich der WWF Deutschland und der WWF Russland - unterstützt durch die Internationale Klimaschutzinitiative des Bundesumweltministeriums - gemeinsam für den Erhalt der Biodiversität in der russischen Arktis durch eine natürliche Anpassung ein. Dazu hat der WWF mithilfe der Voeikov-Daten ein "klimasmartes" Schutzgebietsmodell entwickelt, in dem wichtige und miteinander vernetzte Schlüsselgebiete für arktische Arten identifiziert wurden. Dort hätten sie die besten Überlebenschancen, weil große und zusammenhängende Ökosysteme widerstandsfähiger sind. Insgesamt 87 Refugien in drei Projektregionen wurden bestimmt, von denen aktuell fünf mit einer Fläche von fast drei Millionen Hektar unter Schutz gestellt wurden. 31 weitere Gebiete sind in Planung.


Partnerschaft mit Indigenen

Bei unseren Schutzvorhaben in der russischen Arktis sind indigene Volksgruppen mit ihrem Naturwissen wichtige Partner. Das WWF-Projektteam unterstützt lokale Gemeinden dabei, ihr traditionelles Wissen und Handwerk wie Knochenschnitzerei, Bootsbau oder Schlittenhundezucht wieder zu beleben, Geschäftsideen zu entwickeln und über den Klimawandel zu lernen. Inzwischen gibt es sogar ein offizielles gemeinsames Klimaanpassungsprogramm mit der Regierung Tschukotkas im äußersten Nordosten Russlands. Wie entlang der gesamten Küste der russischen Arktis nehmen dort wegen der immer längeren eislosen Zeit seit einigen Jahren Zwischenfälle mit Eisbären zu. Deshalb unterstützt der WWF insbesondere in Tschukotka auch sogenannte Eisbärpatrouillen. Die engagierten Freiwilligen im Dorf Ryrkaipij zum Beispiel warnen frühzeitig vor den Tieren, vertreiben sie, wenn es nötig ist, und leisten Aufklärung in Schulen. Zusätzlich sammeln sie Daten, die helfen, in allen Arktis-Anrainerstaaten solche Konflikte zu vermeiden. Auch das globale Eisbär-Konflikt-Monitoring-Programm wird vom WWF Deutschland unterstützt. Die dramatische Entwicklung in der russischen Arktis macht deutlich, dass globaler Klimaschutz und lokale Anpassungsmaßnahmen Hand in Hand gehen müssen. Dabei kommt dem WWF mit seinem großen Netzwerk über die russische Arktis hinaus eine Schlüsselrolle zu. Wir sitzen im Arktischen Rat, sind als Regierungsberater:innen aktiv und engagieren uns im arktischen Meeresschutz. So können wir beim Natur- und Klimaschutz im hohen Norden entscheidend mitreden.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

  • Lemminge leben in Tunnelsystemen unter dem arktischen Schnee. Durch die frühe Schmelze werden ihre Höhlen zerstört.
  • Weil die eisfreie Zeit in der Arktis immer länger wird, finden Eisbären nicht mehr genug Nahrung - und kommen deshalb vermehrt in die Dörfer. Rechts: Wetterstationen wie diese erfassen immer häufiger außergewöhnlich hohe Temperaturen.
  • Im äußersten Nordosten Russlands unterstützt der WWF die örtlichen Eisbärpatrouillen. Freiwillige überwachen die Tiere, helfen dabei, Zwischenfälle zwischen den Raubtieren und den Einheimischen zu vermeiden, und leisten Aufklärungsarbeit.

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Quelle:
WWF Magazin 1/2022, Seite 26-29
Herausgeber:
WWF Deutschland
Reinhardtstraße 18, 10117 Berlin
Tel.: 030/311 777 700, Fax: 030/311 777 888
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Internet: www.wwf.de
 
Die Zeitschrift für Förderinnen und Förderer
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