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LAIRE/071: Marine-Zensus zielt auf Nutzung der Meeresbewohner (SB)


Wissenschaftler wollen bis 2010 alle marinen Arten erfassen

Die Absicht hinter dem Marine-Zensus ähnelt in wesentlichen Aspekten der hinter einer Volkszählung: Kontrolle und Verwertung


Die internationale Forschergemeinde hat sich die Erfassung und Klassifizierung sämtlicher Meeresbewohner vorgenommen. Bis zum Jahr 2010 soll das Projekt, an dem mehr als 2000 Experten aus 82 Ländern beteiligt sind, abgeschlossen sein. Einige hundert Forscher sind am heutigen Dienstag zu einer mehrtägigen Konferenz in Valencia zusammengekommen, um sowohl über die Ergebnisse des am Sonntag veröffentlichten vierten Zwischenberichts des sogenannten Marine-Zensus zu diskutieren als auch über die bevorstehenden Aufgaben zu beraten.

Auf den ersten Blick geht es um den Schutz der Arten. Die Begründung für den Marine-Zensus bedarf fast schon keiner Erwähnung mehr, sie wird von den Beteiligten als selbstverständlich angenommen: Nur wer die Arten kennt, kann sie vor dem Aussterben bewahren. Das ist nicht zu leugnen, und doch ist von einer anderen irdischen Sphäre her bekannt, daß die Bioprospektierung durchaus kommerziellen Zwecken dient: Unter dem Vorwand des Naturschutzes durchkämmen Forscher tropische Wälder, immer auf der Suche nach Tier- und Pflanzenarten, die außergewöhnliche, industriell verwertbare Eigenschaften besitzen.

Die Zählung aller Meeresbewohner dürfte auf das gleiche hinauslaufen. Würden in einem nordatlantischen Tiefseegraben plötzlich riesige Heilbuttschwärme entdeckt, stellte sich sofort die Frage, wie stark sie befischt werden dürften, ohne ihren Bestand zu gefährden. Ließe sich aus einer bis dahin unbekannten tropischen Feuerquallenart ein hochwirksames und zuverlässig dosierbares Anästhetikum gewinnen, riefe das sofort die Pharmaindustrie auf den Plan.

Die Absicht hinter einem so umfangreichen Projekt wie dem der Erfassung der Meereslebewesen ist die gleiche, mit der auch eine Volkszählung durchgeführt wird. Es wird eine bessere Verwaltbarkeit angestrebt. Die erste Frage lautet, welche Bestände (an Fisch oder Mensch) administriert werden. Die zweite Frage hingegen zielt auf die Verfügbarkeit. Erst sie vervollständigt den Zensus.

Zählen findet nicht wertfrei statt. Historisch geht die Entwicklung der Zahl und des Zählens mit der Qualifizierung von Herrschaftsformen einher; ein typisches Beispiel ist das Eintreiben von Steuern. Bezeichnenderweise ist die Fähigkeit zu zählen bei vielen Stämmen, die kaum Kontakt zur Zivilisation haben, ähnlich schwach ausgeprägt wie Herrschaftsformen in ihrer Gemeinschaft. Angebliche Funktionen wie Häuptling, Zauberer oder Medizinmann werden häufig sogar erst von außen an die Gemeinschaften angetragen, als Funktion kenntlich gemacht und gestärkt, um die Menschen gegeneinander ausspielen zu können. In der Folge wird diese separierende Sichtweise womöglich adaptiert, sie gehört aber nicht notwendigerweise zum ursprünglichen Stamm. Mit der - nicht selten aufgezwungenen - Differenzierung einer gewachsene Lebensformen wird das Zählen nach und nach implementiert, und menschliche Gemeinschaften werden über den langen Weg der zivilisatorischen Anpassung in die modernen Gesellschaften integriert. Das sich als Individuum begreifende Subjekt wird zählbar und damit problemlos zu verwalten.

Beim Marine-Zensus entfällt die soziale Korrespondenz zwischen Gezähltem und Zählendem. (Aquarienfreunde mögen widersprechen, doch sie sind eine Ausnahme.) Im Unterschied zu Menschen zeigen Fische, Austern oder Seesterne in der Regel keine Bereitschaft, sich zählen, also beherrschen zu lassen. Das Gewaltverhältnis tritt unmaskiert zutage, wenn Tieren Peilsender angelegt werden, wenn sie zwecks biologischer Klassifizierung gefangen und aufgeschnitten werden oder wenn sie später dank einer präzisen Erfassung ihrer Bestände durch den Zensus den Schleppnetzen der Trawler zum Opfer fallen.

Welche Motive der einzelne Wissenschaftler oder Artenschützer auch immer hat, wenn er am Marine-Zensus mitarbeitet, er beteiligt sich an einem Projekt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu genutzt werden wird, die Ausbeutung der Meere zu verbessern. Dabei werden womöglich einige vom Aussterben bedrohte Arten geschützt, es werden aber auch Erkenntnisse gewonnen, die neue Raubzüge in bislang unerschlossenen Meeresregionen nach sich ziehen.

11. November 2008