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LAIRE/104: Europas Mega-Ökostromprojekt - Energie-Autarkie adé (SB)


Supergrid für den Superstaat

Herrschaftsmittel Ökostrom


Wachstum, Wachstum, Wachstum - gut 150 Jahre nach Beginn der industriellen Revolution kleidet sich das verbrauchs- und verschleißorientierte Verwertungssystem menschlicher Arbeitskraft nach schwarz (Kohle) und braun (Erdöl) nun in grünes (regenerative Energien) Mäntelchen vermeintlichen Fortschritts. Mit dem Green New Deal soll der Kapitalismus für das 21. Jahrhundert gerettet werden. Während weltweit die Zahl der Menschen, die nicht genug zu essen haben, rasant steigt und die Milliardengrenze überschritten hat, weitere Milliarden verarmt oder von Verarmung bedroht sind, schließen sich die von diesem Trend wenig berührten, da sogar umgekehrt vorzugsweise profitierenden Staaten zu Bündnissen zusammen, um die globale Ordnung in Ausbeutungsregionen auf der einen und Nutzungsregionen auf der anderen Seite unüberwindlich zu befestigen.

Die Produktion sogenannter erneuerbarer Energien aus Wind, Wasser, Sonne und Biomasse stellt keinen Gegenentwurf zu dieser auf perpetuierendes Wachstum eingeschworenen Entwicklung dar, sondern wird von dieser locker absorbiert und zu eigenen Zwecken umfunktioniert. Mögen ursprünglich einmal die "Alternativen" - von zugezogenen Bauernhofbewirtschaftern im Wendland bis zu Atomkraftgegnern aus Freiburg - gehofft haben, mit ihren Solardächern und Windkraftanlagen sowie einer bescheideneren Lebensweise, als sie ihnen von der kriegserfahrenen, sich vom Wirtschaftswunderwachstum einlullenden Elterngeneration vorgelebt wurde, energetisch autark und überhaupt weitgehend unabhängig vom Staat zu werden, so beweisen jüngere Entwicklungen, daß diese wie auch immer gestalteten Träume längst vom System übernommen und in ihr Gegenteil verkehrt wurden.

Im vergangenen Jahr haben Banken und Konzerne insbesondere aus Deutschland mit der Desertec-Initiative bereits eine imperialistische Neuauflage der Ausbeutung afrikanischer Ressourcen (und damit der Bewohner des Kontinents) gestartet. Wobei diesmal nicht Sklaven, Elfenbein, Erdöl oder verschiedene Erze, sondern Sonnenenergie geraubt werden soll. Verblüffend, aber hinsichtlich der konkreten Folgen macht es für die Bevölkerung keinen nennenswerten Unterschied, ob der Energieträger aus dem Boden heraufbefördert oder ob er oberflächlich mit Parabolspiegeln eingefangen wird.

Nun haben neun europäische Staaten den Aufbau eines "Supergrid" für Ökostrom beschlossen. Wie beim Desertec-Konzept soll die Energie über Tausende Kilometer lange, verlustarme Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungskabel transportiert werden. Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Belgien, Dänemark, die Niederlande, Irland, Luxemburg und Norwegen haben dazu am 7. Dezember die Nordsee-Offshore-Initiative ("North Seas Countries' Offshore Grid Initiative") ins Leben gerufen; am 9. Februar wollen sich die nationalen Koordinatoren treffen, um die weitere Entwicklung in die Wege zu leiten.

Durch das weitverzweigte Netzwerk sollen die unterschiedlichsten Ökostromprojekte miteinander verbunden werden. Das erhöht die Energiesicherheit, so daß beim Ausfall eines Energieproduzenten, zum Beispiel Windstille bei Offshore-Windparks in der Nordsee, andere Erzeuger lückenlos einspringen. Umgekehrt kann eine Überproduktion von Windenergie unter anderem in Wasserspeicherkraftwerke eingespeist werden. Schon heute wird so erzeugter Strom aus der Niederlande verlustarm nach Norwegen geleitet, um Pumpen zu betreiben, die Wasser auf ein höheres Niveau befördern, damit es bei Bedarf wieder in einen unteren Speicher fließen und dabei Generatoren antreiben kann.

Dem Ökostrom gehört die Zukunft. Doch befreit er den einzelnen nicht von seiner Abhängigkeit von den Konzernen, sondern bindet ihn fest an diejenigen, die das Stromnetz kontrollieren. Das rege Interesse des liberalen Wirtschaftsministers Brüderle an dem Nordseeprojekt ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß die Regierung das Potential zur Qualifizierung der Verfügungsgewalt durch die Vernetzung von Ökostromanbietern erkannt hat und nicht willens ist, es allein der Großindustrie zu überlassen.

5. Januar 2010