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LAIRE/178: Tank versus Teller - ein fundamentaler gesellschaftlicher Widerspruch (SB)


Erste Atlantiküberquerung mit Hilfe von Biosprit als Flugbenzin


Vor gut einer Woche fand der erste transatlantische Flug unter Verwendung von Biosprit als Treibstoff statt. Eine Gulfstream G450 flog mit einem Flugbenzingemisch, das zu 50 Prozent aus Leindotter gewonnen wurde, binnen sieben Stunden von New Jersey zum internationalen Flughafen Paris-Bourget. [1] Mit dieser Route knüpften die Organisatoren an die erste Atlantiküberquerung per Flugzeug durch Charles Lindberg im Mai 1927 an. Doch weder der historische Bezug noch die Behauptung, daß bei der Herstellung dieses Biosprits kein Konflikt "Tank oder Teller" besteht, vermögen den Blick zu blenden und von dem Umstand abzulenken, daß mit dem vermeintlichen Fortschritt einer Armut und Not in Kauf nehmende Entwicklung in der Luftfahrt sprichwörtlich Vorschub geleistet wird.

Nachdem Umwelt- und Entwicklungsorganisationen zu Beginn des Biosprit-Booms noch im Glauben an die Nützlichkeit dieses Treibstoffs hofften, daß mit ihm sowohl eine Alternative zur Verbrennung klimaschädlicher, fossiler Energieträger gefunden sei als auch sich für die Kleinbauern in den ärmeren Länder durch den Anbau von Pflanzen zur Energiegewinnung eine zusätzliche Einkommensmöglichkeit erschlösse, mußten sie schnell feststellen, daß das Konzept nahezu vollständig vom industriellen Verwertungsinteresse okkupiert wurde. Monokulturen verdrängten tropischen Regenwald, die Lebensumwelt indigener Völker wurde zerstört, Pestizide kontaminierten die Umwelt; mitunter entstanden sogar sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse. Zudem belegten wissenschaftliche Untersuchungen, daß bei der Biospritherstellung und -verbrennung unter Umständen mehr Treibhausgase erzeugt werden als bei der Nutzung fossiler Energieträger.

Kritiker der eingeläuteten Biospritära brachten die vielen Konflikte auf den eingängigen Widerspruch "Tank versus Teller". Das war leicht zu verstehen und ließ sich gut in der Öffentlichkeit kommunizieren, zumal immer größere Getreidemengen zu Treibstoff verarbeitet wurden, während gleichzeitig die Zahl der Hungernden global anstieg.

Biospritlobbyisten versuchen seit geraumer Zeit, den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie behaupten, daß beim Biosprit der nächsten Generation keine Nahrung mehr zu Treibstoff verarbeitet würde. In Zukunft könnten lediglich nicht zum Verzehr geeignete Pflanzen wie Jatropha, Restaurantabfälle, organische Reste aus der Landwirtschaft, etc. verwendet werden. Dieses fragwürdige Argument wurde auch in der aktuellen Berichterstattung über den Flug der Gulfstream mit Biosprit aus Leindotter vorgebracht.

Fragwürdig ist das Argument insofern, als daß es doch allein von einem humanistischen Standpunkt aus betrachtet selbstverständlich sein sollte, daß der "Tank versus Teller"-Widerspruch nicht allein auf die Gegenüberstellung Mais als Treibstoff oder Mais als Nahrung beschränkt wird. Sollte damit nicht vielmehr etwas Grundsätzliches angesprochen werden, nämlich daß die Menschen in den privilegierten Weltregionen lediglich das Problem der schnellen Fortbewegung, die Menschen in den marginalisierten Regionen dagegen das Problem des nackten Überlebens haben?

Vor dem Hintergrund dieser Frage zu argumentieren, daß nun, da Biosprit aus Leindotter, Abfall oder Algen produziert wird, der Widerspruch Tank oder Teller aufgehoben sei, geht am akuten Überlebensinteresse von rund einer Milliarde hungernden Menschen vorbei. Dem typischen Gegenargument, daß man als Biospritproduzent doch nicht die gesamten Probleme der Menschheit lösen könne, sei die Frage entgegengehalten, welche andere Stelle der gesellschaftlichen Produktion dafür besser geeignet sein sollte als die naheliegendste, also eben diese.

Hier soll mitnichten Schwarzer Peter gespielt werden, der Biospritindustrie soll nicht die verhängnisvolle Karte zugeschanzt werden. Es geht jedoch um konkrete, wirksame und somit nachhaltige Konsequenzen aus dem Umstand, daß am Beispiel des "Tank versus Teller"-Problems ein fundamentaler gesellschaftlicher Widerspruch eine gewisse Medienaufmerksamkeit erlangt hat, was selten genug vorkommt. Umwelt- und Entwicklungsorganisationen und jeder bzw. jede, die an solchen weitergehenden Fragen der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion interessiert sind, könnten durchaus nachfassen und nicht den Argumenten der Biospritindustrie erliegen. "Tank versus Teller" steht für den fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruch von extrem unterschiedlichen Überlebenschancen und Einflußmöglichkeiten und ist nicht deshalb aufgelöst, nur weil Autos mit administrativ abgesegnetem Ethanol oder Flugzeuge mit ethischem vermeintlich sauberem Leindotter angetrieben werden.


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Anmerkungen:

[1] "Camelina Powers First Transatlantic Biofuel Flight", Environment News Service, 19. Juni 2011
http://www.ens-newswire.com/ens/jun2011/2011-06-19-01.html

[2] "USA: Beginn des Ausstiegs aus dem Biosprit", Telepolis, 24. Juni 2011
http://www.heise.de/tp/blogs/2/150039

27. Juni 2011