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LAIRE/298: Agrar - Resistenzen im Aufwind ... (SB)



Eine internationale Gruppe aus Medizin und Wissenschaften warnt in einem Bericht mit dem Titel "No Time to Wait" (Keine Zeit zu warten) für den UN-Generalsekretär vor der zunehmenden Antibiotikaresistenz von Erregern. Das sei eine globale Gefahr. Ein Jahrhundert der Fortschritte in der Medizin und beim Erreichen der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) drohe wieder zunichte gemacht zu werden. Antibiotikaresistenz tritt unabhängig vom Wohlstand in allen Ländern auf, aber besonders betroffen sind die ärmeren Länder, weil sie sich noch schlechter dagegen schützen können. Unter anderem empfiehlt die Arbeitsgruppe, weniger Antibiotika in der Tiermast einzusetzen, damit die Erreger nicht so viele Möglichkeiten haben, Resistenzen zu entwickeln.

Wenn nicht "unverzüglich koordinierte und ambitionierte Maßnahmen" ergriffen werden, könnten im Jahr 2050 im schlimmsten Fall zehn Millionen Menschen jährlich aufgrund von Antibiotikaresistenz sterben, schreibt die von den Vereinten Nationen einberufene Interagency Coordination Group on Antimicrobial Resistance. [1]

Die Autorinnen und Autoren sehen einige der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele, auf deren Erfüllung bis zum Jahr 2030 sich die internationale Staatengemeinschaft geeinigt hat, in besonderer Weise gefährdet. Unter anderem werden "Keine Armut" (Ziel 1), "Kein Hunger" (Ziel 2), "Gesundheit und Wohlbefinden" (Ziel 3) und "Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen" (Ziel 6) und "Weniger Ungleichheiten" (Ziel 10) genannt. Wiederholt wird in dem Bericht festgestellt, daß die Zeit drängt. Die Welt müsse unverzüglich handeln, ansonsten werde die Entwicklung zu weiterer Antibiotikaresistenz innerhalb einer Generation "verheerende Folgen" zeitigen. Schon heute stürben jedes Jahr mindestens 700.000 Menschen an Krankheiten, deren Erreger gegen die Behandlung resistent sind, darunter allein 230.000 an multiresistenter Tuberkulose.

Daß die Antibiotikaresistenz die Kluft zwischen Arm und Reich noch vertieft, zeigt sich an zwei Zahlen: Dem Bericht zufolge könnten zwischen 2015 und 2050 rund 2,4 Mio. Menschen in den reichen Ländern wegen der Unwirksamkeit der Antibiotika sterben. Zugleich wird aber von bis zu zehn Millionen Opfern pro Jahr (!) ab 2050 aufgrund von Antibiotikaresistenz ausgegangen.

Der Bericht benennt eine Reihe von Gründen, die die Resistenzentwicklung von Antibiotika begünstigt haben, einer von ihnen betrifft die Landwirtschaft, weshalb der Bericht die Empfehlung ausspricht: "Die sofortige Einstellung der Verwendung der auf der 'WHO-Liste der wichtigsten antimikrobiellen Wirkstoffe von höchster Priorität für die Humanmedizin' als Wachstumsförderer ist ein wesentlicher erster Schritt, um die Verwendung antimikrobieller Wirkstoffe zur Wachstumsförderung vollständig einzustellen."

In der Europäischen Union sind seit 2006 sämtliche antibiotischen Wachstumsförderer in der Tiermast verboten. Die Mittel dürfen allerdings unter bestimmten Bedingungen als Therapeutikum verwendet werden. In Agrarländern wie Indien, China, USA und Brasilien dagegen werden diese Mittel unverdrossen entweder zur Mast oder zur Prophylaxe verwendet, auch wenn einige von ihnen in der Humanmedizin eingesetzt werden. Besonders problematisch ist dabei die niederschwellige Verabreichung eines Antibiotikums, denn wenn bei der Mast, Prophylaxe oder Behandlung nicht alle Keime ausgemerzt werden, erhöht sich dadurch die Chance, daß die überlebenden Erreger Eigenschaften entwickeln, durch sie gegenüber der nächsten Attacke durch die Menschen besser gewappnet sind. Es wird also eine Selektion betrieben. Genau diese Erreger werden sich in Folge dessen verstärkt vermehren.

Doch selbst dann, wenn sich alle Staaten an die Empfehlungen des Reports hielten, würde noch immer eine große Gefahr der Resistenzentwicklung bestehen, weil Tiere krank werden und in dem Fall auch jene Mittel zum Einsatz kommen, die in der Humanmedizin verwendet werden. Sind beispielsweise eine Handvoll Schweine in einem Bestand von mehreren tausend Schweinen erkrankt, ist es üblich, nicht nur die unmittelbar betroffenen Schweine zu behandeln, sondern prophylaktisch auch ihr Umfeld. Wegen dieser und weiterer Gefahren hat die Weltgesundheitsorganisation WHO im November 2017 "Leitlinien zum Einsatz medizinisch wichtiger Antibiotika in lebensmittelproduzierenden Tieren" herausgegeben. Unter anderem wird darin eine stärkere Trennung zwischen den Antibiotika für Mensch und Tier empfohlen. [2]

Die WHO geht davon aus, daß bis 2050 nahezu alle heutigen Antibiotika wirkungslos sein werden. Es müssen also laufend neue Wirkstoffe oder -mechanismen entwickelt werden, um im Wettrüsten mit den Krankheitserregern die Oberhand zu behalten. Es gibt jedoch keine Garantie auf Erfindungen. Zumal mit neuen Antibiotika womöglich gar nicht so hohe Profite erzielt werden können. Denn erstens rechnet man mit einer Entwicklungszeit von zehn Jahren, bis ein Mittel auf dem Markt gebracht wird, und zweitens besteht eben wegen der wachsenden Resistenzgefahr das unternehmerische Risiko, daß sich die Investition nicht rentiert. Somit ist das globale Problem der Antibiotikaresistenz nichts, was über Marktmechanismen geregelt werden kann.

Was weder die WHO noch der UN-Report in den Mittelpunkt der Ausführungen stellt, obgleich pauschal von Gefahren für "die Menschen" geschrieben wird: Heute schon besteht eine Zweiklassenmedizin. Niemals erhält die große Mehrheit der Menschen beispielsweise im Globalen Süden die gleichen wirkungsvollen Antibiotika wie das dortige Establishment. Da wird dann mit Mitteln gearbeitet, wenn überhaupt, die sich längst als untauglich erwiesen haben. Die Höhe des Einkommens teilt die Menschen - die letzten Bastionen im Kampf gegen Keime sind den wohlhabenderen vorbehalten.

Wenn nun seitens der Medizin eine Reduzierung der Antibiotikamenge nicht nur bei der Fleischproduktion, sondern auch bei der Behandlung von Menschen gefordert wird, bei wem wird dann gespart? Oder anders gefragt, für wen sind die vielleicht wenigen noch wirksamen Mittel vorbehalten? So fragte im November 2016 der Deutsche Ethikrat beim FORUM BIOETHIK mit Titel "Antibiotikaresistenz. Ethische Herausforderungen für Patienten und Ärzte": "Was kann Menschen heute zugemutet werden, um Antibiotika für die Zukunft wirksam zu erhalten?" Die Frage impliziert eine Einschränkung des Gebrauchs von Antibiotika zum Zweck des Erhalts ihrer Wirksamkeit und die potentielle Belastbarkeit von Menschen, die keine Antibiotika erhalten, obschon sie sie gebrauchen könnten. [3]

Ausgehend von der heutigen krassen Diskrepanz beim Zugang zu wirksamen Antibiotika kann man nicht davon ausgehen, daß im Jahr 2050 die letzten Reserven massenhaft zur Behandlung von Epidemien in den Ländern des Globalen Südens ausgegeben werden. Das wäre vom Selbstverständnis der politischen Klasse und gesellschaftlichen Funktionseliten her betrachtet vermutlich pure Verschwendung, auch wenn es nicht beim Namen genannt wird. Angesichts dessen hinterläßt der Bericht "No Time to Wait", so bedeutsam die Warnungen auch und gerade mit Blick auf die Tiermast sind, einen bitteren Nachgeschmack.


Fußnoten:

[1] https://www.who.int/antimicrobial-resistance/interagency-coordination-group/IACG_final_report_EN.pdf

[2] https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/259243/WHO-NMH-FOS-FZD-17.5-eng.pdf

[3] https://www.ethikrat.org/forum-bioethik/antibiotikaresistenz-ethische-herausforderungen-fuer-patienten-und-aerzte/

15. Mai 2019


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