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LAIRE/325: Produkt Auto - konsequent inkonsequent ... (SB)



Weil insbesondere die deutschen Autokonzerne absehbar daran scheitern, die im Jahr 2008 beschlossenen Klimaschutzverpflichtungen der EU einzuhalten, müßten sie eigentlich Strafzahlungen in Milliardenhöhe leisten. Vor kurzem haben Lobbyorganisationen die EU-Kommission aufgefordert, diese Regelung auszusetzen, da die Autobranche wegen der Coronaviruspandemie sowieso schon starke Umsatzeinbrüche verzeichnet. [1] Im Unterschied zu ihren Verbänden haben sich die drei deutschen Autohersteller Volkswagen, Daimler und BMW für die Beibehaltung der CO₂-Emissionsgrenzwerte ausgesprochen. [2]

Mit dem Appell soll eine schon vor der Coronaviruspandemie im Niedergang begriffene Branche geschützt werden, obgleich durch deren Produkte jährlich weltweit Millionen Menschen ums Leben kommen, verstümmelt oder auf andere Weise geschädigt werden, entweder direkt durch Verkehrsunfälle oder indirekt durch die Feinstaubbelastung. Zudem generieren Autos 14 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen der EU und 70 Prozent der Emissionen des gesamten Straßenverkehrs. Somit hat das Auto seine Untauglichkeit als Massenverkehrsmittel genügend unter Beweis gestellt. Daß von der Regierung nicht schon längst vorhandene Alternativen aufgegriffen und weiter ausgebaut wurden, ist sowohl der intensiven Lobbyarbeit der Automobilhersteller als auch dem herrschenden Interesse geschuldet, die Menschen so weit wie möglich der administrativen Kontrolle zu unterstellen.

Dazu dienen die Industrie und mit ihr die Autobranche. Heute hinterfragt niemand mehr das umfassende System aus Lohnarbeit, Zeit zur Regeneration von der Arbeit und, da dies meist an zwei verschiedenen Orten stattfindet, dem Weg mit dem Auto von und zur Arbeit. Für den Erwerb eines fahrbaren Untersatzes müssen viele Menschen lange Zeit arbeiten, auch wenn das begehrte Verkehrsmittel die meiste Zeit stillsteht. Nun wird aus Klimaschutzgründen von Elektroautos als Zukunftsoption für individuelle Fortbewegung geschwärmt, obgleich sich elektrischer Schienenverkehr seit über 100 Jahren bewährt hat.

Die Grenzwertbestimmungen der Europäischen Union sehen vor, daß von diesem Jahr an alle neu zugelassenen Pkw maximal 95g CO₂/km ausstoßen dürfen, was einem durchschnittlichen Verbrauch von 3,6 Liter Diesel bzw. 4,1 Liter Benzin entspricht. Nur noch in diesem Jahr gilt die Übergangsregelung, daß fünf Prozent der Fahrzeuge mit den schlechtesten Abgaswerten nicht in die Bilanz einfließen müssen. Gerechnet wird der Flottenverbrauch eines Unternehmens. Wenn einige Fahrzeuge mehr CO₂ emittieren, müssen andere unter diesem Wert bleiben. Obgleich zum Beispiel Elektrofahrzeuge einen höheren Ressourceneinsatz erfordern, gelten sie als CO₂-neutral. Je mehr Elektrofahrzeuge ein Autohersteller verkauft, desto mehr spritfressende Fahrzeuge darf er auf den Markt werfen. Die Methode, Klimaschutzmaßnahmen nach dem Flottenverbrauch zu richten, war seinerzeit wesentlich von der deutschen Regierung gefordert worden, sind doch deutsche Autohersteller im spritfressenden Hochpreissegment weltweit führend.

Ab 2021 könnte es für die Autohersteller richtig teuer werden. Pro verkauftes Auto müssen für jedes Gramm CO₂ über dem Grenzwert von 95g CO₂/km 95 Euro bezahlt werden. Die Verbände der europäischen Automobilhersteller, Zulieferindustrie und Reifenhersteller erinnern in ihrem Brief an die EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen an die wirtschaftliche Bedeutung der Branche. Sie bietet 13,8 Mio. direkte und indirekte Arbeitsplätze in der Europäischen Union, was 6,1 Prozent aller Jobs ausmacht, und erwirtschaftet einen Handelsüberschuß von 84,4 Mrd. Euro.

Niemand wisse, wie lange die Phase des nahezu kompletten Verkaufsstopps von Autos in der Europäischen Union und übrigen Welt anhält, heißt es in dem offenen Brief. Da die Industrie sehr kapitalintensiv ist, wögen die Implikationen schwer. Die Unternehmen seien auf eine regelmäßige Refinanzierung angewiesen, viele ständen kurz- bis mittelfristig vor Liquiditätsproblemen. Aufgrund der Pandemie seien die eigenen Pläne zur Erfüllung der EU-Abgasvorgaben über den Haufen geworfen, deshalb sollten einige Anpassungen daran vorgenommen werden. Man stelle keineswegs die Absichten hinter den Bestimmungen in Frage. Doch sobald die Pandemie sich abschwächt und Gesundheitsmaßnahmen aufgehoben werden, sei ein schneller Start der Wirtschaft erforderlich.

Der wirtschafsliberale FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer nahm den Ball auf und forderte in der Zeitschrift "Super Illu" ebenfalls, daß in der Phase der wirtschaftlichen Erholung die EU-Flottengrenzwerte auf den Prüfstand gehören. Schlüsselindustrien dürften nicht zusätzlich belastet werden, andernfalls seien Industriearbeitsplätze gefährdet, so Theurer. [3]

Ins gleiche Horn stoßen Analysten der Landesbank Baden-Württemberg. Wann nach der Coronaviruskrise die Lieferketten wieder funktionierten und sich der Absatz normalisiere sei ungewiß. Es müsse "zwingend" über die CO₂-Flottenregeln der EU-Kommission diskutiert werden. Den europäischen Autobauern drohten Strafzahlungen in Höhe von 15 Mrd. Euro. Einer der Vorschläge der Bank lautet, die Strafzahlungen für mindestens ein Jahr auszusetzen. [4]

Um auf den noch ambitionierteren Grenzwert von 59g CO₂/km zu kommen, wie er ab 2030 EU-weit gefordert wird, müßten rund 40 Prozent aller in Europa verkauften Neuwagen elektrisch betrieben sein. Dank der unsinnigen Regelung, daß der hohe Ressourcenverbrauch und damit Energieeinsatz für die Herstellung der Fahrzeuge nicht in deren CO₂-Bilanz Eingang findet, setzen die führenden deutschen Autohersteller auf den Bau und Vertrieb von elektrifizierten SUVs. Dieser wuchtige Fahrzeugtyp hat eine besonders hohe Gewinnmarge, würde aber dann mit Null CO₂ in den Flottenverbrauch eingerechnet.

SUVs sind und bleiben energiehungrig, sie haben entweder einen hohen Spritverbrauch oder benötigen eine hohe elektrische Ladung. Die Zusammensetzung des nationalen Strommix ändert sich laufend, in der Bundesrepublik Deutschland ist er gegenwärtig nicht "klimafreundlich". 2019 hatten die als kohlenstoffneutral gerechneten erneuerbaren Energien einen Anteil am Strommix von 46 Prozent. Trotz einer Steigerung von rund 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr wurden noch immer, gesamtgesellschaftlich gerechnet, mehrheitlich fossile Energien verbrannt, um Elektrofahrzeuge anzutreiben. Doch selbst wenn der Anteil der Erneuerbaren weiter steigt, gilt weiterhin, daß SUVs sehr viel Energie verbrauchen, die ansonsten frei verfügbar wäre, würden anstelle der tonnenschweren SUVs elektrisch betriebene Kleinwagen gefahren.

Was nun das Anliegen der Verbände der Autobranche betrifft, daß die EU-Kommission zunächst nicht auf die Einhaltung der CO₂-Grenzwerte beharren solle, wären mehrere Dinge zu beachten:

- Die meisten Autohersteller haben es versäumt, rechtzeitig ihre Fahrzeugflotten an die von der EU geforderten CO₂-Emissionsstandards anzupassen.

- Auch bei der Elektrifizierung wird von den Herstellern die energiehungrige Autovariante gefördert.

- Die Autobranche hat schon seit einigen Jahren mit sinkenden Verkaufszahlen zu kämpfen. Auch China ist nicht mehr der Absatzmarkt, der die Branche vor einem Absturz bewahren könnte.

- Die Feinstaubbelastung durch den Autoverkehr nimmt durch die Elektrifizierung nicht ab, sondern womöglich sogar zu, weil der größte Teil des Feinstaubs nicht aus den Abgasen, sondern vom Abrieb der Reifen-, Bremsen- und der Fahrbahn stammt. Elektroautos sind viel schwerer als Autos mit Verbrennungsmotoren. In Deutschland sterben pro Jahr ca. 59.600 Menschen vorzeitig aufgrund von Feinstaub, an dessen Erzeugung der gesamte Verkehr (nicht nur Autos) zu 19 Prozent beteiligt ist.

Im Einzelfall erscheint das eigene Auto häufig unverzichtbar. Eine solche Einschätzung gründet sich jedoch auf die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Anders sähe es womöglich aus, wenn beispielsweise der öffentliche Nahverkehr kostenlos angeboten und die Nahverkehrssysteme ausgebaut würden. Dazu könnten auch verschiedene Mobilitätsdienstleistungsangebote eingerichtet werden, wie sie beispielsweise von der Volkswagen-Tochter Moia zur Zeit erprobt oder entwickelt werden. Bei der Berechnung der gesellschaftlichen Kosten für solche Maßnahmen, von denen insbesondere die ärmeren Menschen profitieren würden, wäre unter anderem zu bedenken, daß durch eine Reduzierung des Autoverkehrs viele Menschen weniger gesundheitlich geschädigt werden, Straßen- und Parkplatzflächen, teils in zentraler urbaner Lage, für andere Zwecke freiwerden, die Zahl der Unfallopfer - tot und verletzt - sinken und der Ressourcenverbrauch verringert wird. Zudem würden weniger Treibhausgase emittiert, was wiederum anteilsmäßig die Zahl der Unwettertoten verkleinert, und so weiter.

Die Coronaviruspandemie setzt nicht nur der Autobranche sehr schwer zu. Im Wiederanfahren der gesamten Wirtschaft der EU könnten die Weichen in eine Zukunft gestellt werden, die anders ist als jene vor der Pandemie. Die Bundesregierung und andere Regierungen der EU waren schlecht auf den Ausbruch und die hohen Todeszahlen durch Covid-19 vorbereitet. Es mangelt vor allem an Schutzkleidung für das medizinische Personal. Die Vorbereitungen auf den Klimawandel werden sich irgendwann ebenfalls als mangelhaft erweisen, solange sich die EU der Wachstumsdoktrin, dem Profitstreben und der Konkurrenz gegenüber anderen Weltregionen verpflichtet fühlt. Die Krise könnte ein Anlaß sein, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen oder fortzuführen, wie den potentiellen und realen Gefahren einer Pandemie ebenso wie der globalen Erwärmung in Zukunft am geeignetsten zu begegnen sei.


Fußnoten:

[1] https://www.acea.be/uploads/news_documents/COVID19_auto_sector_letter_Von_der_Leyen.pdf

[2] https://www.elektroauto-news.net/2020/eu-autolobby-will-co2-ziele-wegen-corona-virus-aufweichen/

[3] https://www.wallstreet-online.de/nachricht/12338368-regulierung-fdp-corona-aussetzung-co2-grenzwerten-pkw

[4] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/existenz-der-autoindustrie-die-strengen-co2-regeln-aussetzen-16708548.html

21. April 2020


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