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LAIRE/332: Energiewirtschaft - sie frißt Arbeitskraft und Menschenleben ... (SB)



Ausgerechnet das Unternehmen Ineos, das in der extrem umweltschädlichen petrochemischen Industrie hohe Profite erwirtschaftet, erwartet jetzt vom britischen Staat Hunderte Millionen Euro Hilfe wegen Geschäftsausfällen in Folge der Coronaviruspandemie. Aus Steuervermeidungsgründen hat Ineos seinen Hauptsitz in die Schweiz verlegt, und der Ineos-Geschäftsführer, der Milliardär Jim Ratcliffe, hat seinen Wohnsitz im Steuerparadies Monaco angemeldet - also beste Voraussetzungen, um sich die Taschen mit britischen Steuergeldern vollzustopfen.

Zur gleichen Zeit sterben Tausende Menschen in England und Schottland an Covid-19, weil die wirtschaftsfreundliche Regierung Gesundheitseinrichtungen kaputtgespart hat und inzwischen wieder massiver ökonomischer Druck auf die Menschen ausgeübt wird, trotz der Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus brav an ihren Arbeitsplatz zu gehen.

In einem offenen Brief vom 28. Mai 2020 haben über 100 Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon und den britischen Premierminister Boris Johnson aufgefordert, dem Konzern PetroIneos, einem Zusammenschluß von PetroChina und Ineos, keinerlei staatliche Zuwendungen zukommen zu lassen. Das Joint-Venture-Unternehmen hat für seine petrochemischen Betriebe im schottischen Grangemouth staatliche Unterstützung in Höhe von 500 Mio. brit. Pfund (umgerechnet 558,86 Mio. Euro) beantragt. [1]

NGOs wie Food and Water Europe schreiben in ihrem offenen Brief, daß laut einer umfassenden Lebenszyklusanalyse des Center for International Environmental Law (CIEL) die Plastikindustrie bis 2050 weltweit rund 56 Gigatonnen CO₂ emittieren wird und daß dies zwischen 10 und 13 Prozent des globalen Kohlenstoffbudgets entspricht, das der Menschheit noch bleibt, um die globale Erwärmung nicht um mehr als 1,5 Grad C gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen zu lassen. Dieser Wert wird im 2015 beschlossenen Klimaübereinkommen von Paris als Wunschziel ausgewiesen (2,0 Grad C globale Erwärmung ist das Mindestziel.)

Was weder CIEL noch die Unterzeichnenden des Offenen Briefs wissen konnten: Das globale Kohlenstoffbudget verringert sich möglicherweise beträchtlich, sollte das Klima empfindlicher auf CO₂ reagieren als gedacht. Darauf deuten aktuelle Berechnungen einiger weltweit führenden Klimaforschungsinstitute hin, die dem für 2021 geplanten sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) zuarbeiten. [2]

Abgesehen von dem massiven geopolitischen Interesse der US-Regierung, Europa von der russischen Erdgasversorgung abzukoppeln und statt dessen in Abhängigkeit von ihren eigenen Flüssiggasexporten zu bringen, kann man Ineos als treibende Kraft hinter dem Aufbau einer transatlantischen Erdgasinfrastruktur bezeichnen. Die nimmt in den Frackingregionen Nordamerikas ihren Ausgangspunkt, wird über Ineos-Flüssiggasschiffe sowie Erdöltanker über den Ozean geschippert hat in den europäischen Erdgasverarbeitungsbetrieben ihren Endpunkt. Unter anderem werden die fossilen Brennstoffe in Grangemouth, Schottland, weiterverarbeitet. 2017 waren die dortigen Ineos-Produktionsstätten für nahezu zehn Prozent der schottischen Treibhausgasemissionen verantwortlich, schreibt "The Falkirk Herald", auf den sich der offene Brief unter anderem beruft. [3]

PetroIneos vereint gleich zwei Branchen, die erheblich davon profitieren, daß Umweltschäden externalisiert werden dürfen. Das heißt, daß die Gesellschaft die Schäden akzeptiert oder für deren Beseitigung aufkommt, seien es Kontaminationen mit Nano-, Mikro- und Makroplastik oder die Emissionen von Treibhausgasen durch das Verbrennen der fossilen Energieträger Erdöl und Erdgas. Wobei die Bezeichnung "Gesellschaft" den Umstand verschleiert, daß zwischen den darunter zusammengefaßten Menschen unvereinbare Interessengegensätze bestehen.

Bereits am 10. Mai hatte Johnson, der selber an Covid 19 erkrankt gewesen war, Phase 1 der Aufhebung der Schutzmaßnahmen gegen die lebensgefährliche Ausbreitung des Coronavirus angekündigt und die Menschen aufgefordert, wieder an die Arbeit zu gehen. Dabei unterschieden sich die Bedingungen, unter denen dies geschehen sollte, vielerorts kaum von denen, wie sie vor Ausbruch der Pandemie bestanden. Vor allem aber unterschieden sie sich nicht hinsichtlich der Grundsatzfrage, wer über die Produktionsmittel verfügt und seine Vorteile daraus zieht, daß andere Menschen physisch und psychisch ruinöse Arbeit verrichten.

Phase 2 erfolgte am 1. Juni mit der teilweisen Öffnung der Kitas und Schulen. "Herdenimmunität light" könnte man die Herangehensweise bezeichnen. Nach den USA verzeichnet das Vereinigte Königreich weltweit die meisten registrierten Opfer, die mit oder an Covid-19 gestorben sind. Stand 17. Juni 2020: 41.969 Todesfälle (davon rund die Hälfte in Altersheimen) und zuletzt 138 Todesfälle am Tag.

Dafür ist PetroIneos nicht verantwortlich. Es profitiert jedoch wie auch andere petrochemische Unternehmen davon, daß die britische Regierung und die schottische Regionalregierung die Wirtschaft wieder auf eine Weise hochfahren, wie sie schon vor der Pandemie bestand, und aufgrund der vorherrschenden Produktionsverhältnisse dazu beitragen, was weithin akzeptiert ist, nämlich daß Menschen "normal" erkranken, sei es durch toxische Emissionen und Grund- und Oberflächenwasserverunreinigungen in Frackingregionen wie Pennsylvania, USA, oder durch Feinstaub und giftige Chemikalienabsonderungen aus Plastikprodukten. Nicht zu vergessen die zahllosen Verletzungen, Erkrankungen und Todesfälle in der und durch die petrochemische Industrie.

Ähnlich wie in den USA unter Donald Trump Umwelt-, Gesundheits- und Arbeitsschutzbestimmungen gelockert oder gleich ganz abgeschafft werden, ist damit zu rechnen, daß Jim Ratcliffe und andere Brexit-Befürworter, nunmehr befreit von den EU-Regularien, gemeinsam mit der britischen Regierung weiter an den Stellschrauben drehen und ebenfalls der industriellen Verwertung von Arbeit ohne Schutzauflagen so emsig den Weg glätten wie die Mannschaft beim Eisstockschießen die Gleitbahn.

Auch wenn die Chance, die britische Regierung und schottische Regionalregierung dazu zu bewegen, PetroIneos keine Coronahilfe in Höhe von einer halben Milliarde brit. Pfund zukommen zu lassen, gering erscheint angesichts der Aussicht eines in dieser Höhe nie dagewesenen gesamtwirtschaftlichen Einbruchs des Vereinigten Königreichs, macht der offene Brief auf einen letztlich fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruch aufmerksam.

Treibhausgasemissionen, Plastik in der Umwelt, Freisetzung gesundheitsschädlicher Gase sind Symptome einer auf Zerstörung beruhenden Produktions- und Wirtschaftsweise. Sich den Symptomen zu widmen, indem beispielsweise PetroIneos die beantragte Coronahilfe verweigert wird, kann zu Linderung verhelfen und stände in keinem Widerspruch zu dem tiefergehenden Bemühen um Prävention, also darum, arbeitskraft- und menschenlebenfressendes Wirtschaften gar nicht erst zuzulassen.


Fußnoten:

[1] https://www.foodandwatereurope.org/wp-content/uploads/2020/05/OpenLetter-NoBailoutForIneos.pdf

[2] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/umkl-760.html

[3] https://www.falkirkherald.co.uk/news/environment/ineos-firms-grangemouth-helped-it-become-scotlands-worst-air-polluter-966059

17. Juni 2020


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