Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → MEINUNGEN

OFFENER BRIEF/006: Atomausstieg - Steuerzahler vor Entschädigungsklagen schützen (IPPNW)


IPPNW - Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Offener Brief der IPPNW vom 7. Juni 2011

An die Vorsitzenden
der Fraktionen
des Deutschen Bundestages
und der zugehörigen Parteien

Steuerzahler vor Entschädigungsklagen schützen
Atomausstieg vollumfänglich begründen


Sehr geehrter Herr Brüderle,
Sehr geehrter Herr Ernst,
Sehr geehrter Herr Gabriel,
Sehr geehrter Herr Gysi,
Sehr geehrter Herr Kauder,
Sehr geehrte Frau Künast,
Sehr geehrte Frau Lötzsch,
Sehr geehrte Frau Merkel,
Sehr geehrter Herr Özdemir,
Sehr geehrter Herr Rösler,
Sehr geehrte Frau Roth,
Sehr geehrter Herr Seehofer,
Sehr geehrter Herr Steinmeier,
Sehr geehrter Herr Trittin,

die Drohungen der Atomkonzerne mit Entschädigungsklagen sind keine Veranlassung dafür, die endgültige Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke in Frage zu stellen. Es ist allerdings geboten, das geplante "Atom-Ausstiegsgesetz" sicherheitstechnisch so zu begründen, dass ein Kostenrisiko für die Steuerzahler ausgeschlossen wird.

Die bisherige Begründung eines "Atom-Ausstiegsgesetzes" kann rechtlich gesehen als freundliche Einladung an die Atomkraftwerksbetreiber für Entschädigungsklagen gewertet werden.

Der "Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes" von CDU, CSU und FDP vom 6. Juni 2011 (Bundestags-Drucksache 17/6070) begründet die endgültige Stilllegung von acht Atomkraftwerksblöcken und die zeitliche Befristung der übrigen Blöcke mit dem Erfordernis einer "Neubewertung der mit der Kernenergienutzung verbundenen Risiken" infolge der Ereignisse in Japan bzw. der "nuklearen Folgen der Erdbebenkatastrophe in Japan".

Als vermeintlich "breite Datengrundlage" für eine solche Neubewertung wird auf die aktuelle Sicherheitsüberprüfung der Reaktor-Sicherheitskommission nach Fukushima verwiesen.

Nun sollte man annehmen, dass aus der Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission Passagen wiedergegeben werden, aus denen Sicherheitsmängel der deutschen Atomkraftwerke erkennbar werden. Stattdessen wird den Anlagen ein hohes Sicherheitsniveau bescheinigt: "Die Reaktor-Sicherheitskommission kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die deutschen Anlagen einen hohen Robustheitsgrad aufweisen und im Hinblick auf die Ereignisse in Fukushima hinsichtlich der Stromversorgung und der Berücksichtigung externer Überflutungsereignisse für deutsche Anlagen eine höhere Vorsorge festzustellen ist."

Auslösende Ereignisse, hinsichtlich deren Beherrschung die Reaktor-Sicherheitskommission Sicherheitsdefizite festgestellt hat, bleiben explizit unerwähnt.

Ferner wird die Reaktor-Sicherheitskommission mit der Einschätzung wiedergegeben, wonach bezüglich der (wenigen) untersuchten auslösenden Ereignisse für einen Unfall "kein durchgehendes Ergebnis in Abhängigkeit von Bauart, Alter der Anlage oder Generation auszuweisen" sei. Die Begründung steht somit in bemerkenswertem Widerspruch zu Ziel und Inhalt der vorgesehenen Gesetzesnovelle, die eine "zeitlich gestaffelte" Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke vorsieht, die sich zweifellos an Bauart, Alter der Anlage und Reaktorgeneration orientiert.

Der ausschließliche Verweis auf diese Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission hat zudem zur Folge, dass bestehende Sicherheitsdefizite des gesamten "normalen" Störfallspektrums (Kühlmittelverluststörfälle, Transienten, Einwirkungen von Innen etc.) in der Gesetzesbegründung ebenso ausgeklammert bleiben wie zahlreiche der mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 2008 ebenfalls von der erforderlichen Risikovorsorge umfassten "auslegungsüberschreitenden Ereignisse" der Sicherheitsebene 4 (z.B. ATWS, "Kernschmelzfestigkeit").

Als weitere Grundlage für eine Neubewertung werden wenige ausgesuchte Passagen aus dem Votum der von der Bundesregierung eingesetzten Ethikkommission "Sichere Energieversorgung" wiedergegeben. So sei die Kommission (lediglich) zu dem Ergebnis gelangt, "dass die Realität eines Reaktorunfalls substanziellen Einfluss auf die Bewertung des Restrisikos" habe, "die mögliche Unbeherrschbarkeit eines Unfalls eine zentrale Bedeutung im nationalen Rahmen" einnehme und angestrebt werde, "die Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität soweit wie möglich zu beschränken und innerhalb eines Jahrzehnts den Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie zu vollziehen".

Abgesehen davon, dass die Verwendung des Restrisiko-Begriffs nicht in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung steht (Bundesverfassungsgericht: "Ungewissheiten" jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens; Bundesverwaltungsgericht: "Nicht weiter minimierbarer, unentrinnbarer Rest"), wodurch die Gesetzesbegründung auch in dieser Hinsicht angreifbar sein könnte:

Substanzielle Anhaltspunkte für eine "Neubewertung" der Kernenergie sind auch dieser Passage nicht zu entnehmen.

Im Anschluss daran heißt es lapidar: "Die Bundesregierung hat unter Einbeziehung dieser Ergebnisse beschlossen, die Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität zum frühestmöglichen Zeitpunkt - zeitlich gestaffelt - zu beenden."

Es ist festzustellen, dass mit dieser - bislang vorgesehenen - Gesetzesbegründung eine explizite "Neubewertung der Kernenergie" seitens der antragstellenden Fraktionen bzw. der Bundesregierung nicht erfolgt.

Mit dem Verweis auf die angebliche "hohe Robustheit" der deutschen Atomkraftwerke wird vielmehr Tür und Tor für Entschädigungsklagen seitens der Betreiber geöffnet.

Da fehlender Sachverstand hierbei nicht zu unterstellen ist, stellt sich die Frage, ob dieser Gesetzentwurf den vorsätzlichen Versuch darstellt, den Steuerzahlern ein erhebliches Kostenrisiko aufzubürden und ob diesbezüglich heimliche Absprachen mit den Betreibern bestehen.

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass seitens der Opposition bislang kein scharfer Widerspruch zu dieser Gesetzesbegründung zu hören ist, obwohl sich schon seit Wochen und spätestens mit der Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission abzeichnet, dass die Bundesregierung ihr Gesetz nur sehr "dünn" begründen möchte.

Abhilfe schafft auch der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Gesetzentwurf vom 25. Mai 2011 nicht (Drucksache 17/5931), weil darin die Stilllegung der ältesten Atomkraftwerke ausschließlich mit dem Risiko eines "Flugzeugabsturzes oder eines terroristischen Angriffs mit einem Flugzeug" begründet und die Stilllegung der übrigen Anlagen überhaupt nicht begründet wird.

Auch wenn die explizite Benennung des Risikos eines Flugzeugabsturzes in der Gesetzesbegründung erforderlich ist, ist die Begründung dieses Entwurfs insgesamt noch "dünner" und defizitärer als die Begründung der Regierungsfraktionen.

Es bestünde problemlos die Möglichkeit, die Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke so zu begründen, dass jegliche Entschädigungsdrohungen der Betreiber von vornherein ins Leere laufen. Eine solche Begründung sollte das gesamte Störfall-und Ereignisspektrum einschließlich der Frage der Beherrschbarkeit eines Kernschmelzunfalls ("Kernschmelzfestigkeit") in den Blick nehmen und beispielsweise auch auf zunehmende Alterungserscheinungen der Anlagen und grundsätzlich auf brisante Vorkommnisse der vergangenen Jahre verweisen. Auch sollte natürlich eine "Neubewertung der Kernenergie" explizit erfolgen.

Um eine hinreichende sicherheitstechnische Konkretisierung zu gewährleisten, sollte in der Begründung nicht nur auf die aktuelle Stellungnahme der Reaktor-Sicherheitskommission verwiesen werden. Es erscheint vielmehr geboten, u.a. auch Bezug zu nehmen auf die Periodischen Sicherheitsüberprüfungen, auf das neue Regelwerk, auf die gutachterlichen Stellungnahmen im Rahmen der Strommengen-Übertragungsverfahren, auf diverse Risikostudien jüngeren Datums, auf die so genannte "Nachrüstliste" vom 3. September 2010 sowie insbesondere auch auf den nach Fukushima vom Bundesumweltministerium erstellten Anforderungskatalog vom 16. März 2011.

Auf diese Weise kann der Atomausstieg, der aus sicherheitstechnischen Gründen auch die umgehende Stilllegung der neun "neueren" Anlagen umfassen muss, rechtlich wasserdicht gemacht werden.

Natürlich liegt es im Bereich des Möglichen, dass Klagen gegen eine von den Regierungsfraktionen und Teilen der Opposition beschlossene Atomgesetznovelle von den Gerichten abgewiesen werden. Allein der Verweis auf Fukushima ist in gewisser Hinsicht eine hinreichende, da auf der Hand liegende "Neubewertung der Kernenergie" und verhältnismäßig ist der Atomausstieg allemal.

Es erscheint allerdings geboten, im Interesse der Steuerzahler auch in fiskalischer Hinsicht dem Gebot der Risikominimierung zu folgen und eine saubere Gesetzesbegründung nachzuschieben.

Mit freundlichen Grüßen

Reinhold Thiel
Vorstand

Henrik Paulitz
Atomexperte


Über die IPPNW:

Diese Abkürzung steht für International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges engagieren sich seit 1982 für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg. 1985 wurden sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seit 1990 stehen zusätzlich gesundheitspolitische Themen (z.B. Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten) auf dem Programm des Vereins. In der IPPNW sind rund 7.000 ÄrztInnen und Medizinstudierende organisiert.


*


Quelle:
Offener Brief der IPPNW, 07.06.2011
Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung
des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW)
IPPNW-Geschäftsstelle, Körtestr. 10, 10967 Berlin
Telefon: 030 / 69 80 74-0, Fax: 030 / 69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2011