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ATOM/324: Der Nuklearunfall von Tricastin - Bevölkerung gefährdet (SB)


Radioaktive Substanzen aus französischer Urananlage ausgelaufen

Panne behoben ... Radioaktivität in Umwelt verteilt

Bevölkerung wurde erst viele Stunden später über die Gefahr informiert


Wenn in China ein Sack Reis umfällt oder in Großborstel eine Bütt mit Zement ausläuft, interessiert das gesellschaftlich gesehen niemanden. Anders hingegen verhält es sich mit Betrieben, in denen mit radioaktiven Substanzen hantiert wird. Die Betreiber von Kernkraftwerken und Uranverarbeitungsfabriken tragen eine besondere gesellschaftliche Verantwortung, da sie die Obhut über hochtoxische Substanzen haben, deren zerstörerische Strahlung man weder sehen, riechen noch schmecken kann. Radioaktivität entzieht sich der Sinneswahrnehmung des Menschen.

Am Dienstagmorgen um 6.30 Uhr kam es in dem französischen Nuklearbetrieb Tricastin, nördlich von Avignon, beim Reinigen eines Kessels zu einem Unfall, bei dem circa 30.000 Liter uranhaltige Flüssigkeit unter anderen in die Flüsse Rhône, Gaffière und Lauzon gelangt sind. Nach dem jüngsten Erkenntnisstand wurde die Bevölkerung erst zwölf Stunden später über den Unfall informiert. Entgegen anderslautenden Beteuerungen trugen die Menschen der Region in diesen zwölf Stunden ein erhöhtes Kontaminationsrisiko. Bei dem Strahlenstoff handelte es sich zwar angeblich um abgereichertes Uran, was auf vergleichsweise geringe Zerfallsraten schließen läßt, aber dennoch können die Betreiber der Anlage nicht ausschließen, daß Menschen das Uran aufgenommen haben oder es noch eines Tages aufnehmen werden. Sowohl die Strahlen- als auch die chemische Schwermetallwirkung von Uran ist potentiell krebserregend.

Bis heute sind die betroffenen Gewässer in den Präfekturen Drôme und Vaucluse von der in Lyon ansässigen Atomaufsichtsbehörde ASN noch nicht zum Baden und Fischen oder zur Entnahme von Wasser für die Landwirtschaft freigegeben, obgleich sich das Uran längst verteilt haben müßte und dadurch kaum noch anmeßbar sein dürfe. Theoretisch könnte die behördliche Maßnahme als besondere Umsicht gedeutet werden, vorstellbar wäre aber auch, daß die Gefahr noch immer nicht gebannt ist. ("Gebannt" hieße, daß der Strahlenstoff großräumig in den Flüssen verteilt wurde und damit die zulässigen Grenzwerte auch bei Proben aus dem stärker belasteten oberflächennahen Wasser nicht überschritten werden).

Anfangs sprachen die Betreiber davon, daß 30 Kubikmeter Wasser mit insgesamt 360 kg Uran in die Umwelt gelangt sind, später wurde der Wert auf 75 kg reduziert. Der Rest (genauer gesagt, 150 kg) seien auf dem Firmengelände geblieben, hieß es. Die Verantwortung für den Vorfall liegt bei der Firma Socatri, einem Subunternehmen von Areva. Socatri ist auf dem Gelände des Kraftwerks Tricastin für die Dekontaminierung von Atommüll und die Uranverarbeitung durch die Wiederaufbereitungsanlage Eurodif zuständig.

Das für radioaktive Messungen in der Unfallregion verantwortliche IRSN (Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire) erklärte, daß die Folgen des Austritts für die Bevölkerung "vernachlässigbar" seien. Auch die Betreiber selbst behaupten, daß die Bevölkerung nicht in Gefahr gewesen ist.

Dem widersprechen Organisationen wie Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) und die französische Anti-Atomkraft-Gruppe Sortir du Nucléaire. Denn es gibt keinen Strahlenstoff, der kein potentielles Risiko für die Bevölkerung darstellt. Die französische Umweltgruppe beruft sich unter anderem auf die Commission de recherche et d'information indépendantes sur la radioactivité (Criirad), einem Verein unabhängiger Forscher, der darauf aufmerksam gemacht hatte, daß zwischen Unfall und Warnung an die Bevölkerung eine viel zu lange Zeit verstrichen war. Die Radioaktivität läge 100 Mal über der zulässigen Jahresmenge, und die Urankonzentration sei vermutlich 6000 Mal höher als die genehmigte Höchstmenge von 50 Becquerel pro Liter, erklärte Criirad. Die Vereinigung forderte weitere Daten, um die Folgen für Mensch und Umwelt besser beurteilen zu können.

Letztlich stimmten auch die Criirad-Experten der Einschätzung der Betreiber zu, daß das Gesundheitsrisiko aufgrund der Panne gering ist, berichteten aber, daß es in der Anlage häufiger Vorfälle gegeben habe. Nicht einmal eine Woche vor dem Unfall hatte die Criirad darauf aufmerksam gemacht, daß in der Anlage zu hohe Strahlenwerte herrschen und daß der Nuklearmüll nahezu ungeschützt herumliegt. In Tricastin lagern 770 Tonnen Strahlenmüll aus Militärbeständen. Dieser wurde zwischen 1969 und 1976 mit Erde bedeckt, die hin und wieder erneuert werden mußte. Teils hatte Regen die Atomfässer freigelegt, und das Grundwasser nagt ständig von unten her an dem Hügel. Erstmals wurde dieser 2002 in behördlichen Dokumenten erwähnt. Die Organisation Criirad hat mittlerweile Klage gegen Socrati eingereicht.

In seinem im Mai veröffentlichten Jahresbericht bescheinigt die Atomaufsichtsbehörde ASN der Urananlage einen mangelhaften Zustand. Wiederholt kam es zu Lecks in Leitungen, wobei radioaktive und chemisch-toxische Grenzwerte überschritten wurden. Das Leitungsnetz von Socrati galt als marode, es sollte "so schnell wie möglich" ersetzt werden, forderten die Gutachter. Außerdem verlangten sie eine gründlichere Überwachung der Anlagen.

Bei ihren Ermittlungen des aktuellen Vorfalls haben die ASN-Inspektoren festgestellt, daß es zum Zeitpunkt des Unfalls "Unregelmäßigkeiten" bei der Beachtung der Vorschriften gab. Die Aufsichtsbehörde wird einen entsprechenden Bericht der Staatsanwaltschaft übergeben. Am heutigen Freitag wurde die Einstellung der Arbeiten zur Reinigung von verstrahltem Material in der Atomanlage von Tricastin angeordnet. Areva teilte mit, daß der Unglückstank stillgelegt wird und dreizehn Millionen Euro in eine neue Anlage zur Uranbehandlung investiert werden.

Socatri lud interessierte Vereinigungen ein, an der Auswertung der Uranproben der Gewässer teilzunehmen. Das ist kein Zeugnis einer neuen Firmenpolitik, sondern Kalkül. Kann sich doch das Unternehmen gewiß sein, daß die Uranmenge längst verteilt ist und somit die Strahlenbelastung kaum noch nachweisbar. Das eigentliche Problem ist nämlich nicht der Unfall an sich, sondern es ist struktureller Art. Die grundlegende Einigkeit von Behörden und Betreibern beim Umgang mit dem Strahlenstoff, die Duldung maroder Anlagen und Ignoranz gegenüber dem Recht und Bedürfnis der Bevölkerung auf Unversehrtheit gehen viel weiter, als anhand eines einzigen Unfalls dargestellt werden könnte.

Die Entwarnung des französischen Umweltministers Jean-Louis Borloo am Donnerstag sollte zu denken geben: "Es besteht keine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung." Bedeutet das, daß zumindest eine mittelbare Gefahr für die Bevölkerung besteht? Am Samstag findet in Paris eine Demonstration gegen Nuklearenergie statt. Angesichts der von einflußreichen Teilen der Wirtschaft und Politik verbreiteten Behauptung, daß diese Energieform klimafreundlich ist, wäre es wünschenswert, wenn die Teilnehmer der Demonstration sich mit ihrer Kritik nicht auf Einzelereignisse beschränkten, sondern auf die häufig unterdrückten systemischen Strahlenemissionen von Nuklearenergieanlagen verwiesen.

11. Juli 2008