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ATOM/392: Tschernobyl und Fukushima - zwei "unwahrscheinliche" GAU innerhalb einer Generation (SB)


Schwerste "Kollateralschäden" der Nuklearwirtschaft am laufenden Band

Heute vor 25 Jahren explodierte Reaktor 4 des Akw Tschernobyl in der Ukraine

... und mit jeder guten Nachricht vom Akw Fukushima Daiichi soll eine schlechte leichter verdaulich gemacht werden


26. April 2036: Ein halbes Jahrhundert nach dem Super-GAU im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl und gut ein Vierteljahrhundert nach Beginn der Fukushima-Katastrophe erinnern die Medien weltweit an den bis dahin schwerwiegendesten Nuklearunfall in der Geschichte Japans. Im Unterschied zum Tschernobyl-GAU, bei dem eine Explosion radioaktive Partikel mehrere Kilometer hoch geschleudert hatte, so daß die Strahlenwolke vom Wind in weit entfernte Regionen Europas getragen wurde, breiteten sich die Fukushima-Radionukleotide langsam, aber stetig aus. Weite Teile der ostjapanischen Küste sind heute eine Todeszone, in der sich niemand aufhalten darf. Zwar findet eine permanente Verteilung der radioaktiven Stoffe statt, aber die Radionukleotide sammeln sich an der Küste und unterliegen einer komplexen Dynamik des Ökosystems. Der bei Ebbe trockenfallende Küstenstreifen ist der Winderosion ausgesetzt, so daß die Strahlenteilchen davongetragen werden und besiedelte Gebiete außerhalb der im Jahr 2012 ausgewiesenen 50-Kilometer-Sperrzone erreichen können. Bei der nächsten Flut wird dann ein Teil der gefährlichen Partikel wieder ins Meer gespült, ein anderer bleibt erneut zurück.

Die Betreibergesellschaft Tepco und die japanische Regierung standen damals weitgehend ratlos vor der Aufgabe, mehrere havarierte Reaktoren und Abklingbecken gleichzeitig auch nur so weit unter Kontrolle zu bekommen, daß die permanenten Strahlenemissionen nicht mehr zunahmen. Der Öffentlichkeit wurde wochenlang vorgegaukelt, es bestünde die Aussicht, die Kühlung der heißen Brennelemente in Gang zu setzen. Ein Irrtum, wie das Unternehmen schließlich einräumen mußte. Experten wußten von Anfang an, daß die gesamte Steuerungselektronik der Anlage endgültig ausgefallen war. Dennoch wurden schlecht bezahlte Arbeiter gedrängt, hochradioaktiv verseuchtes Wasser aus den Fluren und Räumen abzupumpen, während gleichzeitig ihre Kollegen Wasser zur Kühlung in die Anlagen einspritzten ...


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So könnte in 25 Jahren eine Reportage über den mehrfachen Fukushima-GAU beginnen. Heute, einen Monat und 15 Tage nach dem Erdbeben und Tsunami, die das Akw Fukushima Daiichi im Norden Japans verwüstet haben, berichtet Tepco, daß nun Becken gebaut werden sollen, um das radioaktive Wasser aufzufangen [1] - heute, einen Monat und 15 Tage nach Beginn der verharmlosenden Berichterstattung über die Nuklearkatastrophe, sagt die Erfahrung, daß hinter jeder guten Nachricht aus Fukushima eine schlechte verborgen wird. Die Erfahrung täuscht allerdings - es werden nicht eine, sondern zwei schlechte Nachrichten verborgen.

Die erste: Die Kontamination des Wassers innerhalb des Akw mit Jod und Cäsium hat gewaltig zugenommen. Die zweite: Innerhalb des Akw befinden sich schätzungsweise 70.000 Tonnen radioaktiv verseuchtes Wasser, Tepco will bis Juni Auffangbecken für lediglich 31.400 Tonnen bauen. Das bedeutet, daß der größere Teil im Gebäude bleibt oder - wer wollte das ausschließen - ins Meer gepumpt wird. Sollte es nicht gelingen, Kühlung und Filterung zu reparieren, will das Unternehmen bis Dezember jeden Monat weitere Becken für das verseuchte Wasser errichten. Wie gesagt, die Becken, deren Errichtung für die nächsten zwei Monate angekündigt wurde, reichen nicht einmal für das verstrahlte Wasser, was sich zur Zeit in dem Akw befindet, ob das Unternehmen bis Dezember hinterherkommt, alles Wasser aufzufangen? Denn die Meiler müssen laufend weiter gekühlt werden, da sich ansonsten die Brennelemente erhitzen und eine erneute Kernschmelze droht ("erneut" ist vielleicht nicht der passende Ausdruck, denn bis heute weiß niemand, ob die Kernschmelze überhaupt geendet hat).

Nochmals zurück zur ersten schlechten Nachricht. Laut n-tv [2], das sich auf Angaben des japanischen Fernsehsenders NHK beruft, stieg der Wert für Jod-131 um das zwölffache und der für Cäsium-134 und -137 um das 250fache an - gemessen am Vormonat, in dem aber die Werte bereits erhöht waren. Das heißt, hier wird mit Zahlen gemauschelt, denn auch wenn die Angaben korrekt sind (was hier mal angenommen werden soll), so bleiben sie ungenau, da nun jeder Laie eigene Recherchen anstellen muß, um herauszufinden, wie hoch die Verstrahlung im Vormonat war. Cäsium-134 hat eine Halbwertszeit von zwei und Cäsium-137 von 30 Jahren.

Festzuhalten bleibt, daß die Strahlenbelastung innerhalb des Atomkraftwerks enorm steigt und daß ein Entweichen der Radionukleotide in den Boden, ins Meer und in die Atmosphäre nicht ausgeschlossen werden kann. Die japanische Regierung und die Betreibergesellschaft verbreiten lediglich die Hoffnung, bis Juni könne die Kühlung angelaufen sein. Bislang gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß dies gelingt. Auch ist die Gefahr erneuter Explosionen nicht gebannt, ebensowenig wie die Gefahr von weiteren Erdbeben und Tsunamis als behoben gelten kann. Da stellt sich die Frage, ob die Auffangbecken erdbeben- und tsunamisicher gebaut werden oder ob die nächste Überflutung das zuvor gesammelte radioaktive Wasser ins Meer reißen könnte.

Am heutigen Dienstag wird der Tschernobyl-Katastrophe vor 25 Jahren gedacht. Treffender wäre es, wenn in der Medienberichterstattung erklärt würde, daß heute dem Beginn der Katastrophe, die bis heute nicht abgeschlossen ist, gedacht wird. Denn erstens ist das langlebigere Cäsium-137 noch nicht aus der Umwelt verschwunden, zweitens zerfällt der um den havarierten Reaktor 4 des Akw Tschernobyl gebaute Betonsarkophag zusehends, so daß Strahlenpartikel in die Umgebung gelangen, und drittens leiden zahllose verstrahlte Menschen an Krebs und anderen typischen Strahlenkrankheiten. Die betroffenen Frauen bringen vermehrt geschädigte Kinder zur Welt oder müssen sich im frühen Alter einer Unterleibsoperation unterziehen, die sie gebärunfähig macht, wie die Autorin Swetlana Alexijewitsch heute morgen im Deutschlandradio Kultur berichtete [3].

Die Tschernobyl-Katastrophe ist also nicht vorbei - und mit Fukushima Daiichi hat sich eine zweite Katastrophe hinzugesellt, von der nicht ausgeschlossen werden kann, daß sie nicht den Super-GAU von Tschernobyl hinsichtlich der langfristigen Gesundheits- und Umweltschäden noch übertreffen wird. Aber das zu vermeiden genießt in einem auf Verwertung der Arbeitskraft gegründeten und diese Entwicklung laufend qualifizierenden System keine Priorität. Der vergesellschaftete Mensch wird von seinen Artgenossen auf verschiedenste Weise geschädigt oder beseitigt, mal in direkter Form beispielsweise durch Krieg, mal durch Vernachlässigung (Hunger) oder Verweigerung lebenswichtiger Medikamente (Aids, Malaria, Meningitis, etc.), mal durch Verschleiß in ganz normalen, das heißt entfremdeten Arbeitsverhältnissen und mal durch Verstrahlung als Kollateralschaden einer auf Wachstum und Profitmaximierung orientierten Wirtschaftsweise. Solange aber die diesem Herrschaftssystem unterworfenen Menschen keine Entwicklung einleiten, die sich hiervon fundamental emanzipiert, werden Tschernobyl und Fukushima nicht die letzten industriellen Großkatastrophen bleiben.


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Anmerkungen:

[1] "Japan aktuell: Auffangbecken für radioaktiv verseuchtes Wasser in Fukushima", 26. April 2011
http://www.noows.de/japan-aktuell-auffangbecken-fur-radiokativ-verseuchtes-wasser-in-fukushima-28156

[2] "250-mal mehr Cäsium in Fukushima. Strahlenwerte steigen rapide", n-tv, 26. April 2011
http://www.n-tv.de/panorama/Strahlenwerte-steigen-rapide-article3178386.html

[3] "'Sonst laufen wir in den Selbstmord'" - Weißrussische Autorin über den Nach-Tschernobyl-Menschen und den nötigen Atomausstieg", Swetlana Alexijewitsch im Gespräch mit Andreas Müller, Deutschlandradio Kultur, 26. April 2011
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1443427/

26. April 2011