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ATOM/422: US-Regierung will Strahlenmaterial in Umlauf bringen (SB)


USA - Recycling-Moratorium für schwach radioaktive Abfälle droht zu kippen



Radioaktivität - man sieht sie nicht, man schmeckt sie nicht, man spürt sie nicht, und sie entfaltet ihre gesundheitsschädigende Wirkung möglicherweise erst nach Jahrzehnten. Der Mensch verfügt nicht über die erforderlichen Sinnesorgane, um radioaktive Strahlung feststellen und sich davor schützen zu können, indem er beispielsweise jeden Kontakt mit Strahlenmaterial von vornherein vermeidet. Dessen ungeachtet erwägt die US-Regierung, die Bevölkerung einer weiteren Strahlenbelastung auszusetzen, indem sie das Recylingverbot für schwach radioaktiv verstrahltes Material aufhebt. [1]

Das US-Energieministerium (DOE - Department of Energy) begründet seine Pläne damit, daß es sich um äußerst geringfügige Strahlenmengen handelt, die in Umlauf gebracht werden, und daß die individuelle Strahlendosis verglichen mit anderen Strahlenbelastungen eines Durchschnittsbürgers vernachlässigbar ist. Man bleibe unterhalb der zulässigen Grenzwerte. Radioaktiver Abfall dagegen werde weiterhin als solcher behandelt und gelagert.

Unerwähnt bleibt allerdings, daß sich Strahlenbelastungen stets aufsummieren. Jede zusätzliche Kontamination erhöht das Risiko einer Schädigung. Darüber hinaus vertreten anerkannte Strahlenexperten den Standpunkt, daß es keinen unteren Grenzwert für Strahlenexpositionen gibt. Selbst schwache Radionukleotide, die inkorporiert, also vom Körper aufgenommen werden, könnten Krebs auslösen, da sie die natürlichen Abwehrmechanismen der Zellen quasi unterliefen. Anders gesagt, die Strahlung wäre gerade deshalb gefährlich, weil sie unterhalb des Radars der Immunabwehr, die auf stärkere Zellschädigungen eingestellt ist, wirken könnte, lautet die These. Theoretisch könne ein einziger radioaktiver Zerfall Krebs auslösen.

US-Umweltgruppen wie NIRS (Nuclear Information and Resource Service) [2] kritisieren das Vorhaben ihrer Regierung und haben die Öffentlichkeit dazu aufgerufen, Einwände an das Energieministerium zu senden. Die Einspruchsfrist hierfür endete am Samstag, den 9. Februar.

John LaForge lieferte am 23. Januar für die Website Counterpunch.org [3] einen kurzen Einblick in die Problematik. Ihm zufolge sind aus den Atombombenfabriken und nationalen Forschungsanlagen der achtziger und neunziger Jahre zig Millionen Tonnen radioaktiver Schrott und Nickel übriggeblieben, den die Regierung nun recyceln will. Der jüngste Vorschlag des Energieministeriums sähe aber nicht einmal ein Gutachten für die Umweltfolgen vor. So ein Gutachten erfordere die Durchführung öffentlicher Anhörungen, was das DOE vermeiden wolle, spekulierte LaForge.

Auch wenn die zusätzliche individuelle Strahlenbelastung durch den recycelten Schrott aus Nuklearanlagen gering ist, so besteht doch das Problem der Akkumulation. Die Zahl der Strahlenquellen, denen ein Durchschnittsbürger in einem Industrieland wie den USA im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist, hat zugenommen. So wird zwar bei medizinischen Geräten seit Jahrzehnten daran gearbeitet, die jeweils verabreichte Einzeldosis zu verringern, aber umgekehrt wird in der medizinischen Untersuchung immer häufiger mit Strahlung gearbeitet, angefangen vom klassischen Röntgenbild über Computertomographie (CAT) und Szintigraphie bis zur Positronen-Emissions-Tomographie. Auch Lebensmittel werden regelmäßig radioaktiv bestrahlt; an Flughäfen kann es zur Durchleuchtung kommen, und da der Flugverkehr insgesamt zugenommen hat, bekommen die Flugreisenden eine höhere Dosis ionisierender Strahlung in großer Flughöhe ab.

Hinzu kommen Strahlenbelastungen durch schwere Unfälle in der Nuklearindustrie (Three Mile Island 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011) sowie durch "geringe" Freisetzungen im Zuge der Kühlwassereinleitungen in öffentliche Gewässer und durch die regelmäßigen Wartungsarbeiten wie den Wechsel von Brennelementen in Kernreaktoren. Wenn in solchen Fällen der Deckel der Reaktorkammer geöffnet wird, kann das radioaktive Gas Radon entweichen. Das verschwindet nicht aus der Welt, sondern verteilt sich dünn in der Erdatmosphäre.

Der Counterpunch-Autor macht darauf aufmerksam, daß die Nationale Strahlenschutzkommission (National Council on Radiation Protection) schon bald nach der Tschernobyl-Katastrophe die Schätzwerte der durchschnittlichen Jahresbelastung eines US-Bürgers von 170 auf 360 Millirem angehoben hat. Vor einigen Jahren sei der Wert sogar auf 630 Millirem heraufgesetzt worden. Die Strahlenschutzkommission führe die Mehrbelastung auf die Zunahme an radioaktiven Belastungen in der Medizin zurück.

Das Energieministerium wolle 14.000 Tonnen Metallschrott aus der Nuklearindustrie wiederverwerten, schrieb LaForge und berichtete unter Berufung auf die Anti-Atomorganisation NIRS, daß das verwendete Material zu allem möglichen, beispielsweise zu "Reißverschlüssen oder Baby-Spielzeug" verarbeitet werden könnte. Der Autor hält die Erklärung des Energieministeriums, daß die potentielle Strahlengefahr für Männer, Frauen und Kinder auf eine "vernachlässigbare individuelle Dosis" hinauslaufe, für unglaubwürdig. Er erinnert daran, daß jenes Ministerium ebenfalls behauptet habe, daß Regenwasser Tausende von Jahren benötige, um durch die Klüfte im Gestein der als radioaktives Endlager vorgesehenen Yucca Mountains zu fließen. Tatsächlich benötige das Wasser dafür nur 40 Jahre, so LaForge, der auch für die Website Nukewatch schreibt und deren vierteljährlichen Newsletter herausgibt.

Am 11. Januar hat der demokratische Abgeordnete Ed Markey einen Brief [4] an den Noch-Energieminister Steven Chu geschrieben und die Pläne seines Ministeriums als "unvernünftig" bezeichnet. Sie müßten "unverzüglich" fallengelassen werden. Er sei darüber sehr "besorgt". Die radioaktiven Produkte könnten letztlich von Schwangeren, Kindern und anderen besonders empfindlichen Personengruppen benutzt werden. Laut LaForge werde jedoch in den meisten Strahlenrisikoabschätzungen ein junger, weißer Mann als Bezugsgröße für die Belastbarkeit genommen und eben nicht empfindliche Personen.

Aufgrund öffentlichen Druck hatte der frühere US-Energieminister Bill Richardson im Jahr 2000 ein Moratorium gegen das Inverkehrbringen von Abfall aus Nukleareinrichtungen ausgesprochen, auch wenn dieser nachweislich nicht verstrahlt ist. Eigentlich ist das Moratorium längst abgelaufen, aber bislang hat sich noch keine US-Regierung zu dem Schritt durchgerungen, schwach strahlende Abfallstoffe in Umlauf zu bringen. Die Umweltgruppe NIRS vermutet, daß eine endgültige Aufhebung des Moratoriums als Türöffner für die Verwirklichung eines 1992 verworfenen, viel umfänglicheren Plans zum Management von radioaktiven Abfall dienen könnte.

In der Studie des US-Energieministeriums wird im Detail beschrieben, um welche Materialklassen es sich handelt, die für das Recycling freigegeben werden sollen, und um welche nicht. Dabei berufen sich die Autoren auf das ALARA-Prinzip. Das steht für "As Low As Reasonable Achievable", zu deutsch: So niedrig wie vernünftigerweise erreichbar. Genau das ist jedoch das Problem. Wer definiert, was "erreichbar" und was "vernünftig" ist? Und welche Interessen verfolgt derjenige? Energieminister Steven Chu hat 1997 den Physik-Nobelpreis erhalten und steht der Atomenergie positiv gegenüber. Er sieht sie - ebenso wie regenerative Energien - als unverzichtbar an, um das klimaschädliche Verbrennen fossiler Energieträger einzustellen. Chu dürfte eine völlig andere Vorstellung davon haben, was "erreichbar" und "vernünftig" ist, als beispielsweise die Vertreter der NIRS oder Physiker, die der Atomenergienutzung kritisch gegenüber eingestellt sind.

Übrigens darf auch in der Bundesrepublik schwach strahlender Abfall aus Kernkraftwerken recycelt werden, sofern bestimmte Grenzwerte nicht überschritten werden. In Deutschland ist die GNS - Gesellschaft für Nuklear Service mbH eigenen Angaben zufolge "mit der kompletten Entsorgung der Reststoffe und Abfälle aus den deutschen Kernkraftwerken betraut". Sollte ein zur Wiederverwertung vorgesehenes Material noch oberhalb der Grenzwerte liegen, werde es gegebenenfalls "behandelt". Wie die Behandlung aussieht, erfährt man in der Firmenpräsentation [5] nicht. Eine Möglichkeit besteht darin, das Material zu strecken, so daß anschließend die Gesamtmenge des kontaminierten Materials unter den Grenzwert rutscht. Auch das ist ALARA ...


Fußnoten:

[1] http://www.nirs.org/radwaste/recycling/doeea1919december2012.pdf

[2] http://www.nirs.org/

[3] http://www.counterpunch.org/2013/01/23/nuclear-weapons-waste-in-your-water-bottle-hip-replacement-babys-toys-jungle-gym/

[4] http://markey.house.gov/sites/markey.house.gov/files/documents/2013-01-11_DOE_RadioActive_ScrapMetal.pdf

[5] "Erfahrung und Innovation - Maßgeschneiderte Lösungen für ein modernes Abfallmanagement", Mai 2011, GNS Gesellschaft für Nuklear-Service mbH
www.gns.de

11. Februar 2013