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ATOM/456: Kernkraftwerke - vielfältig im Gebrauch ... (SB)



Seit dem Bau der ersten Generation von Atomkraftwerken behaupten deren Betreiber, die Technologie sei sicher. Ein schwerer Unfall trete pro Reaktor rechnerisch nur einmal in einer Million Jahren auf, hatte es einmal geheißen. Nach den schweren Unfällen mit unkontrollierten Kernschmelzen von Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) muß man wohl von sehr viel kürzeren Fristen ausgehen. In einer aktuellen Studie stellen Atomenergieexperten ein Sicherheitskonzept vor, mit dem diese schweren Unfälle angeblich nicht passiert wären.

Francesco D´Auria (Italien), Nenad Debrecin (Kroatien) und Horst Glaeser (Deutschland) begründen im Fachblatt "Nuclear Energy and Technology" unter dem Titel "The technological challenge for current generation nuclear reactors" [1] ihren Vorschlag für eine zusätzliche Barriere für größere Leichtwasserreaktoren (1000 MW oder mehr) auf mehrere Weise. Gleich als erster Grund wird "die Schwäche der Barriere im Design des gegenwärtigen Kernbrennstoffs" genannt.

Sicherlich ist es erfreulich, wenn selbst Anhänger der Atomenergie einräumen, daß die Leichtwasserreaktoren "Schwächen" aufweisen, die behoben werden sollten. Aber davon war bisher nicht die Rede. Ob in Deutschland, Frankreich, USA, Indien oder wo auch immer, stets heißt es, daß die Akws höchsten Sicherheitsstandards entsprechen. Niemals gestehen die Betreiber ein, daß ihre Anlage prinzipielle Mängel aufweist. Erst im nachhinein, sobald eine neue Generation von Akws vermarktet werden soll oder einzelne Aggregate modifiziert werden, erfährt die Öffentlichkeit vom unzureichenden Design des Vorgängermodells.

Man könnte von einer jahrzehntelangen, systematischen Täuschung sprechen. Dabei würde die denkbare Ausrede, die Ingenieure von früher hätten es nun mal nicht besser gewußt und die Technologie entwickle sich ja mit den Erfahrungen immer weiter, das genaue Gegenteil bedeuten: Wer wollte ausschließen, daß eine zukünftige Generation von Ingenieuren über die heutige Zeit das gleiche sagt wie die heutige über die Ursprünge der Atomtechnologie?

Die inhärente Sicherheitsbarriere der Urandioxid-Pellets und der Zirkalloy-Hüllrohre der Brennstäbe habe in den letzten beiden Jahrzehnten "unerwartete Schwächen" gezeigt, vor allem bei hohen Brenntemperaturen. Die zusätzliche Sicherheitsmaßnahme würde das Risiko einer Kernschmelze um den Faktor zehn bis tausend verringern, heißt es in dem Artikel.

Das bedeutet wohl, daß die heutigen Leichtwasserreaktoren noch reichlich Potential zur Modifikation ihrer Sicherheit besitzen. Wer hätte das gedacht ...

Zudem versuchen die Autoren ihren Vorschlag mit der Bemerkung schmackhaft zu machen, daß er nur ein Prozent des Gesamtpreises eines Akws kosten würde. Da stellt man sich unwillkürlich die Frage, ob der Vorschlag zu mehr Sicherheit auch dann vorgebracht worden wäre, wenn die Maßnahmen 10, 50 oder 150 Prozent eines Akws gekostet hätten. Bemißt sich das Ergreifen von Sicherheitsmaßnahmen am Bedürfnis der Menschen nach körperlicher Unversehrtheit oder an den Profiterwartungen der Ökonomie?

Hier geht es nicht um eine Bewertung und technische Analyse des Vorschlags, sondern um die Diskrepanz zwischen dem Eindruck, den die Akw-Betreiber und -Lobbyisten im allgemeinen verbreiten, und der Sicherheitsdebatte, die in Fachjournalen geführt wird. Ein Blick auf die umfangreichen Quellennachweise hinterläßt einen treffenden Eindruck davon, wie intensiv über Sicherheitsfragen debattiert wird. Wie gesagt, das könnte man als positiv ansehen. Ein Atomlobbyist würde vermutlich den Standpunkt einnehmen, daß genau das ein Hinweis darauf ist, daß die Technologie immer sichererer gemacht wird. Dennoch gilt ebenfalls: Je mehr Sicherheitsmaßnahmen von einer Akw-Generation zur nächsten ergriffen werden, desto komplexer wird die Aufgabe, Wasser mit Hilfe der Atomspaltung zum Kochen zu bringen, um damit Turbinen anzutreiben, die elektrischen Strom generieren. Aufgrund der zunehmenden Komplexität der modernen Atomkraftwerke erhöht sich die Gefahr, daß unerwartete, bislang nicht bekannte Störungen auftreten.

Aus der Perspektive der nuklearen Sicherheit seien seit 1942, als die Fähigkeit unter Beweis gestellt wurde, daß die Kernspaltungsreaktion kontrollierbar ist, rund 500 Atomkraftwerke sicher betrieben worden, behaupten die Autoren und ignorieren, daß es seit jenes Beginns des Atomzeitalters eben nicht nur die weiter oben erwähnten drei besonders schweren Unfälle mit Strahlenfreisetzung gab, sondern in den Akws weltweit viele tausend Ereignisse meldepflichtig waren und sich einige aus bloßem Zufall nicht zu einem schweren Unfall weiterentwickelt haben. Unterschlagen wird auch die Häufigkeit von Unfällen beim Abbau und der Verarbeitung von Uran sowie bei der Lagerung abgebrannter Brennelemente.

Wobei nach 65 Jahren der Stromproduktion in Atomkraftwerken noch immer kein Endlager für abgebrannte Brennelemente existiert. Nirgends. Deutschland beispielsweise sucht noch immer nach einem geeigneten Standort. Man rechnet damit, daß wohl nicht vor Ende dieses Jahrhunderts ein Endlager gefunden und gebaut werden wird.

Offensichtlich handelt es sich bei dem Artikel in "Nuclear Energy and Technology" um den Versuch, die in Verruf geratene Atomenergie wieder salonfähig zu machen. Das Vorhaben könnte gelingen. Denn abgesehen vom berufsständischen Interesse der Autoren besteht ein naheliegendes Interesse der Staaten einerseits an dieser zentralistischen, regulationsaufwendigen Energiegewinnungstechnologie und andererseits an der Option, den Kernbrennstoff höher anzureichern und eine eigene Atombombe zu bauen.

Die Autoren schreiben, daß schwere Unfälle mit der Verstrahlung von Mensch und Umwelt nicht eintreten sollten oder daß die Wahrscheinlichkeit von schweren Unfällen auf einen "akzeptablen" Wert reduziert werden sollte. Doch was ein "akzeptabler" Wert ist, entscheiden in der Regel nicht diejenigen, die verstrahlt werden, erkranken oder sterben. Deshalb bleibt es dabei: Das sicherste Atomkraftwerk ist immer noch dasjenige, das gar nicht erst gebaut wird.


Fußnote:

[1] https://nucet.pensoft.net/article/38117/

28. November 2019


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