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KLIMA/496: Mehr und größere Methanblasen lösen sich vom nordsibirischen Schelf (SB)


Vom arktischen Meeresboden lösen sich riesige Gasblasen

Russischer Forscher berichtet über bislang nicht beschriebenes Phänomen


Die Ausdünstungen von Methan aus dem arktischen Schelf Nordsibiriens nehmen weiter in einem Ausmaß zu, der die Experten aufschreckt. Mitte Dezember berichtete Igor Semiletov von der russischen Akademie der Wissenschaften gegenüber der britischen Zeitung "The Independent", daß sie früher Methanausgasungen auf Flächen von lediglich mehreren zehn Metern Durchmesser beobachtet hätten. Doch heute sähe das Bild anders aus: "Erstmals haben wir dauerhafte, kräftige und beeindruckende Quellstrukturen von über eintausend Metern Durchmesser entdeckt." [1] Am meisten hätten ihn die schiere Größe und Dichte der Methanblasen beeindruckt. Mehr als einhundert von ihnen hätten sie in einem relativ kleinen Gebiet gezählt. Deshalb vermuten die Forscher, daß es Tausende solcher Gasblasen geben müsse.

In einer im vergangenen Jahr unter Klimaforschern weithin beachteten Studie [2] hatte ein Forscherteam mit Dr. Semiletov berechnet, daß sich aus dem nordsibirischen Schelfgebiet rund acht Millionen Tonnen Methan pro Jahr lösen. Nun schreibt "The Independent", daß laut der jüngsten Expedition das Phänomen "erheblich" unterschätzt worden sei. Ende des Sommers habe das russische Forschungschiff "Academician Lavrentiev" umfangreiche Daten in einem Seegebiet von rund 26.000 Quadratkilometern vor der ostsibirischen Küste gesammelt. Dabei wurden vier hochempfindliche Meßinstrumente, die sowohl seismische als auch akustische Daten erfassen, eingesetzt, um die Quellen der Methanblasen, die sich vom Meeresboden lösen und aufsteigen, zu erfassen. Semiletov schilderte: "Wir haben unsere Überprüfungen an rund 115 stationären Punkten vorgenommen und Methanfelder von einer unvorstellbaren Größe entdeckt. Meiner Ansicht nach wurde so etwas noch nie zuvor gesehen. Einige Blasen waren über einen Kilometer groß, die Emissionen wanderten direkt in die Atmosphäre - die Konzentration war hundertmal stärker als normal." [1]

Methan kommt in der Atmosphäre in deutlich geringerer Konzentration vor als Kohlendioxid, ist aber als Treibhausgas mindestens 20 mal so wirksam. An vielen Kontinentalrändern liegt Methan als Gashydrat vor, so auch in Nordsibirien. Da der Schelf relativ flach ins Meer führt, legen die aufsteigenden Methanblasen keine große Strecke bis zur Oberfläche zurück, so daß sie nicht oxidieren und zu keinem weniger schädlichen Gas umgebaut werden.

Mit dem Rückzug des arktischen Eises wächst die freigesetzte Methanmenge, wobei der Wissenschaftsjournalist Andrew C. Revkin, der für die "New York Times" schreibt, den Standpunkt vertritt, daß auf dem Gebiet zu viel Alarmismus betrieben werde. [3] Er begründet dies unter anderem mit einer Studie von Igor Dmitrenko vom Leibniz Institut für Meereswissenschaften in Kiel, die am 6. Dezember 2011 im Journal of Geophysical Research erschienen ist. Demnach haben sich die arktischen Gewässer zwar erwärmt, auch hat eine Eisschmelze eingesetzt, aber laut Dmitrenko et al. ist der Permafrostboden in den letzten 25 Jahren nur um einen zusätzlichen Meter zu den bereits aufgetauten 25 Metern geschmolzen. Selbst in den extremsten Klimaszenarien werde der Permafrost bis zum Jahr 2100 nicht um mehr als weitere 10 Meter und bis zum nächsten Millennium um 50 Meter schmelzen. Die größte Menge an Methan befände sich jedoch knapp 200 Meter unter der Oberfläche. [4]

In diesem Jahrhundert würden die wirklich großen Methaneinschlüsse im Permafrostboden nicht mehr freigesetzt, glaubt Revkin. Ein weiteres Argument: Bisher sei in der Atmosphäre noch keine auffällige Erhöhung des Methananteils nachgewiesen worden. Er bezieht sich unter anderem auf den Atmosphärenforscher Ed Dlugokencky, der behauptet habe: "Auf der Basis dessen, was wir in der Atmosphäre sehen, gibt es keinen Beweis einer substantiellen Zunahme von Methanemissionen in der Arktis in den letzten 20 Jahren."

Jener Forscher berichtete allerdings im Jahr 2008 für die NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration) von einem "scharfen Zuwachs" an Kohlendioxid und Methan im Jahr 2007. [5] Später vermutete Dlugokencky, daß hohe Temperaturen zu diesen stärkeren Methanemissionen dank der Mikroorganismen in Feuchtgebieten geführt hätten. Dennoch, wenn Revkin behauptet, man habe noch keinen Anstieg der Methankonzentration in der Atmosphäre registriert, dann trifft das nicht zu. Die Indizien sprechen gegen ihn, wenngleich der letztgültige Beweis eines Zusammenhangs zwischen Methanausdünstungen vom arktischen Schelf Nordostsibiriens und der Erderwärmung noch nicht erbracht wurde.

Der ostsibirische Teil der Arktis hat sich im Zeitraum 2000 bis 2005 um rund fünf Grad Celsius gegenüber dem Durchschnitt des 20. Jahrhunderts erwärmt. [6] Eine andere Angabe lautet, daß die Wassertemperaturen vor der Küste Nordostsibiriens um 2,1 Grad Celsius seit 1985 gestiegen sind. [4] Aufgrund solcher Beobachtungen kommen Igor Semiletov und Natalia Shakhova vom International Arctic Research Center der University of Alaska Fairbanks zu dem Schluß:

"Es wäre nur vernünftig anzunehmen, daß bei anhaltender Erwärmung das regionale Kohlenstoff-Pool, das (...) aus Sedimenten und Meersbodenlagerstätten von Methan (CH4) besteht, gestört werden wird; und Hinweise auf Störungen werden über dem Ostsibirischen Arktischen Eisschelf (ESAS) auftreten." [6] An anderer Stelle erklärte Shakhova: "Die Methanmenge, die zur Zeit aus dem Ostsibirischen Arktischen Schelf entweicht, ist vergleichbar mit der Menge des Methans aus sämtlichen Weltmeeren zusammengenommen." [7]

Demgegenüber fragt Revkin, ob die Beobachtungen von Gasblasen in der Arktis tatsächlich ein neues Phänomen sind oder ob sie nur neu erscheinen, weil man erst jetzt nachgeschaut hat. Diese Frage kann wohl inzwischen beantwortet werden, denn was Semiletov gegenüber dem "Independent" und auch Anfang Dezember auf dem Jahrestreffen der American Geophysical Union in San Francisco berichtete, zeigt womöglich einen Trend und nicht "nur" ein Phänomen, das bislang lediglich niemandem aufgefallen war.

Bis jetzt sind wir auf eine Überlegung, wie sie in der Fachwelt angestellt wird, noch nicht eingegangen: Gibt es einen Tipping Point, also einen Schwellenwert, ab dem eine Freisetzung von Methan aus der Arktis beim besten Willen nicht mehr gestoppt werden kann? Sollten in den letzten paar tausend Jahren schon immer Methangasblasen vom arktischen Meeresboden aufgestiegen sein und die jüngsten Beobachtungen Semiletovs nichts Besonderes gewesen sein, so wird es möglicherweise keinen Schwellenwert geben bzw. dieser nicht erreicht werden. Hat sich dagegen die Methanfreisetzung in der Arktis drastisch verstärkt, könnte der Zeitpunkt, an dem ein hochdynamischer Prozeß nicht mehr korrigiert werden kann, nicht mehr fern liegen.



Anmerkungen:

[1] "Vast methane 'plumes' seen in Arctic ocean as sea ice retreats", The Independent, 13. Dezember 2011
http://www.independent.co.uk/environment/climate-change/vast-methane-plumes-seen-in-arctic-ocean-as-sea-ice-retreats-6276134.html#

[2] Natalia Shakhova et al.: Extensive Methane Venting to the Atmosphere from Sediments of the East Siberian Arctic Shelf. Science 327, 1246, dx.doi.org/10.1126/science.1182221

[3] "Methane Time Bomb in Arctic Seas - Apocalypse Not", Andrew C. Revkin, 19. Dezember 2011
http://dotearth.blogs.nytimes.com/2011/12/14/methane-time-bomb-in-arctic-seas-apocalypse-not/

[4] Schultz, C. (2011), Siberian shelf methane emissions not tied to modern warming, Eos Trans. AGU, 92(49), 464, doi:10.1029 /2011EO490014
http://www.agu.org/pubs/crossref/2011/2011EO490014.shtml

[5] "Carbon Dioxide, Methane Rise Sharply in 2007", 23. April 2008
http://www.noaanews.noaa.gov/stories2008/20080423_methane.html

[6] "Siberian Sea Shelf Study", International Arctic Research Center, University of Alaska Fairbanks, 22. Dezember 2010
http://research.iarc.uaf.edu/SSSS/index.php

[7] "Science stunner: Vast East Siberian Arctic Shelf methane stores destabilizing and venting", Joe Romm, 4. März 2010
http://thinkprogress.org/romm/2010/03/04/205600/science-nsf-tundra-permafrost-methane-east-siberian-arctic-shelf-venting/

2. Januar 2012