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KLIMA/601: Wurde in der Arktis ein Kippunkt überschritten? (SB)


Warmer Nordpol, kaltes Rußland


"Extrem", "verblüffend", "völlig verrückt" - in die Berichterstattung über die aktuellen Wetterverhältnisse in der Arktis mischen sich aus Wissenschaftskreisen inzwischen Formulierungen, die ebensogut aus den Beschreibungen für Naturkatastrophen entnommen sein könnten. Wäre der Nordpol bewohnt, dürften deren Bewohner es tatsächlich als eine solche Katastrophe empfinden, was sich dort zur Zeit ereignet. Denn am nördlichsten Punkt der Erde ist es zur Zeit bis zu 20 Grad wärmer als im Durchschnitt der Jahre 1979 bis 2000. Zur gleichen Zeit herrschen in Ostsibirien, dem kontinentalen Rußland und einigen zentralasiatischen Staaten Temperaturen, die 20 Grad tiefer sind als üblicherweise um diese Jahreszeit.


Darstellung der Erdkugel mit Abweichungen der Temperatur vom Basiswert, errechnet aus den Jahren 1979 bis 2000 - Foto: Angefertigt mit Daten des Climate Reanalyzer (http://cci-reanalyzer.org), Climate Change Institute, University of Maine, USA

Starker Gegensatz der Temperaturanomalien zwischen der Nordpolregion und Sibirien, 21. November 2016.
Grafik: Angefertigt mit Daten des Climate Reanalyzer (http://cci-reanalyzer.org), Climate Change Institute, University of Maine, USA

Möglicherweise ist dieses Phänomen Ausdruck dafür, daß in der Arktis ein Kippunkt überschritten wurde und das Klima außer Rand und Band geraten ist. Die Hohen Breiten sind durchaus bekannt dafür, daß dort häufiger sehr stark vom Mittelwert abweichende Temperatur- und Luftdruckverhältnisse auftreten können. Dennoch ragt die diesjährige Anomalie selbst noch aus den "normalen" Anomalien deutlich heraus. Üblicherweise schwankt die Temperatur am Nordpol um diese Jahreszeit um -25 Grad Celsius herum, real gemessen werden dort zur Zeit jedoch nur -5 Grad.

Zum Vergleich: In Deutschland ist es um diese Jahreszeit im Durchschnitt drei bis vier Grad warm. Die Eisverkäufer haben ihre im Sommer so beliebten Läden dichtgemacht und sind längst wieder nach Italien gefahren. In so einem "anomalen" Jahr bräuchten sie das nicht. Denn bei Temperaturen von 23 bis 25 Grad würde sich das ganze Leben auf der Straße abspielen, und die Straßencafés und italienischen Eisdielen wären überlaufen. Als Katastrophe würden das wohl nur die Glühweinverkäufer ansehen, aber was wäre, wenn eine derart gravierende Temperaturanomalie auf den üblichen Sommertemperaturen aufsatteln würde?

Es mangelt seitens der Wissenschaft nicht an Erklärungsbemühungen für dieses Phänomen. Der Jetstream, jene kräftige, rund zehn bis 15 Kilometer hohe Windströmung, die sich in großräumigen Kurven von West nach Ost um die Nordhalbkugel bewegt und mittels Hoch- und Tiedruckgebieten unser Wetter bestimmt, hat in diesem Jahr große Mengen feuchtwarmer Luftmassen nach Norden verfrachtet, erläutert die Arktis-Expertin Jennifer Francis von der Rutgers University laut der Washington Post. [1] Aber auch die geringe Meereisausdehnung und die geringe Dicke des Eises (als Folge der relativen warmen Arktis im vergangenen Jahr) werden mitverantwortlich für die Wetteranomlie gemacht.

An diesen Erklärungen zeigt sich, was in der Wissenschaft "positive Rückkoplung" genannt wird: Der Grund, warum sich das Meereis langsamer zurückbildet als üblich, liegt nicht zuletzt an den vergleichsweise warmen Windmassen, die der Jetstream nach Norden verfrachtet. Zugleich sorgt der warme Wind für eine Verlangsamung der Meereisbildung.

Es ist erst wenige Tage her, da wurde gemeldet, daß sich das Meereis in diesem Jahr so langsam zurückbildet wie während keines anderen Herbstes seit Beginn der regelmäßigen Satellitenbeobachtung. [2] Diese Entwicklung setzt sich offenbar fort, was bedeuten könnte, daß die Arktis von Jahr zu Jahr ein höheres "Energieniveau" erhält - so wie das relativ warme Jahr 2015 vermutlich auch die Voraussetzungen für die diesjährigen Extreme bei Luft- und Wassertemperatur sowie der Meereisentwicklung lieferte.

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) [3] sieht sowohl im arktischen Meereis also auch im Eispanzer Grönlands Kippunkte bzw. Kippelemente: Sollte das Meereis unterhalb eines Schwellenwerts schrumpfen, könnte sich irgendwann im Winter nicht mehr genügend Eis nachbilden, so daß die Eisausdehnung rasch weiter abnimmt, bis innerhalb weniger Jahre die Arktis eisfrei wird. Hinweise auf dieses Szenario werden bereits seit vielen Jahren beobachtet. Und wenn der mehrere tausend Meter dicke grönländische Eisschild schmilzt, würden nicht nur zunehmend mehr küstennahe Bereiche eisfrei, so daß sie verstärkt Wärme von der Sonne aufnehmen könnten, sondern der ganze Eispanzer würde abflachen und seine Oberfläche in deutlich wärmere Luftschichten gelangen als bisher. Auch das wäre ein sich selbst verstärkender Prozeß.

Die Wissenschaftlerin Francis hat herausgefunden, daß der Jetstream um so stärker nach Norden und Süden ausschwingt, je schneller sich die Arktis im Verhältnis zu den äquatorialen Breiten erwärmt. [4] Die Wissenschaft wird vermutlich den Standpunkt vertreten, daß längere Meßreihen benötigt werden, bevor die These bewiesen werden kann, daß in der Arktis bereits ein solcher Kippunkt überschritten wurde. Zwar wird vom Westantarktischen Eisschild angenommen, daß er den Kippunkt überschritten hat und die Gletscher auch dann noch weiter abschmelzen werden, sollte der Mensch schlagartig jegliche Kohlenstoffdioxidemissionen beenden, aber hinsichtlich der Arktis wird - bislang jedenfalls - nur vor eben solch einer Entwicklung gewarnt.

Allerdings haben Forscher bereits beim bisherigen Meereisminimum vor vier Jahren vor den unabsehbaren Folgen gewarnt. Auch wenn der Wert von damals seitdem nicht mehr unterschritten wurde, hat sich der Trend in mancher Hinsicht fortgesetzt. Die diesjährigen extrem hohen Temperaturen am Nordpol und die zögerliche Rückbildung der winterlichen Meereisfläche passen in das Bild.

Um die These zu stützen, daß in der Arktis unaufhaltsame Prozesse angelaufen sind, also genau jenes Szenario eingetreten ist, vor dem in der Forschung eindringlich gewarnt wird, wäre es vielleicht erforderlich, über den Tellerrand der eigenen Fachrichtung hinauszuschauen, sich einen Überblick zu verschaffen und die Beobachtungen in den verschiedenen Erdsystemen miteinander zu verknüpfen, um dadurch ein plausibles Gesamtbild zu erzeugen. Wahrscheinlich würden darin Auffälligkeiten einfließen wie das El-Niño-Phänomen, jene weltweit zu beoachtende Klimaumkehr, die seit Beginn der regelmäßigen Wetterbeobachtungen noch nie so ausgeprägt war wie im Jahreswechsel 2015/16. Auch die sechsmonatige Blockade der quasi-biennalen Oszillation (auch quasi-zweijährige Schwingung genannt, QBO abgekürzt) stellt die Wissenschaft vor Rätsel, wie Paul Newman, Chefwissenschaftler für Geowissenschaften am Goddard Space Flight Center der NASA in Greenbelt, US-Bundesstaat Maryland, und Hauptautor einer Studie, die in diesem Jahr in den "Geophysical Research Letters" erschienen ist, berichtete. [5]

Bei der QBO handelt es sich um eine riesige Umwälzbewegung der Luftmassen innerhalb der Stratosphäre. Noch nie zuvor war so eine Blockade beobachtet worden. Da das Verhalten der QBO regelmäßig in die Berechnungen zur Hurrikanvorhersage einfließt, kann man vermuten, daß die außergewöhnliche Blockade Auswirkungen auf die unteren Luftschichten hatte, die wiederum das Wetter bestimmen, auch wenn man bislang noch keine Folgen dessen entdeckt hat - oder eben nicht dazu in der Lage war, weil man nicht weiß, wo man nachschauen soll.

Solche atmosphärenphysikalischen Phänomene sind Erscheinungsformen von Wandlungen, Begleiterscheinungen, Wechselwirkungen und Rückkopplungsmechanismen, von denen die Menschen meist nur die Folgen zu spüren bekommen. Die schlagen sich dann als extreme Kälte in Sibirien und extreme Wärme am Nordpol nieder. Dabei bietet die bloße Messung von Trends physikalischer Größen natürlich noch keine Handhabe, um auf so einen Vorgang Einfluß zu nehmen. Aber daraus den Schluß zu ziehen, daß auf jegliche Bemühung um Einflußnahme verzichtet werden könnte, wie es manche Klimawandelleugner vorschlagen, dürfte sich als geradezu fahrlässig erweisen, bestände die Alternative doch darin, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, was das Klima bringt ...


Fußnoten:

[1] https://www.washingtonpost.com/news/energy-environment/wp/2016/11/17/the-north-pole-is-an-insane-36-degrees-warmer-than-normal-as-winter-descends

[2] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/umkl-600.html

[3] https://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente

[4] tinyurl.com/zh6y584

[5] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/redakt/umkl-593.html

21. November 2016


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