Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION


KLIMA/617: Arktisches Aufwärmen (SB)


Eisfreie Tschuktschensee bereits im Mai


Die Serie an ungewöhnlichen Ereignissen und Rekordwerten in der Arktis reißt nicht ab. Nachdem im vergangenen Jahr auf Grönland und in anderen Gebieten nördlich des Polarkreises sehr hohe Temperaturen verzeichnet wurden und auch das Meereis eine geringere Ausdehnung gegenüber früheren Vergleichsmonaten aufwies, hat in 2017 der Rückzug des Meereises an der nordamerikanischen Küste mindestens einen Monat früher eingesetzt als normalerweise. Um diese Jahreszeit sollte die Tschuktschensee an der Nordküste Alaskas, von Point Hope bis Barrow, vereist sein. Erst Anfang Juli sollte man sehen, was man bereits am 24. Mai zu sehen bekam: das offene Meer.


Luftaufnahme der Küste, an der auf einem breiten Streifen noch das Meereis lagert - Foto: TravelingOtter, freigegeben als CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

Barrow, Landeanflug, 12. Juni 2010: Sogar im Juni wird die Küste noch durch Meereis vor den anrollenden Wellen geschützt.
Foto: TravelingOtter, freigegeben als CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/] via Flickr

Satellitenmessungen zeigen, daß die eisfreie Meeresfläche 139.859,36 Millionen Quadratkilometer groß ist, berichtete die Website Inside Climate News. "Wenn das eine natürliche Variabilität ist, ist es keine Art, die mir bekannt ist", wird Mark Serreze, Direktor des National Snow and Ice Data Center (NSIDC) der USA, zitiert. [1]

Ist das Meer offen und nicht vereist, muß mit einer höheren Niederschlagsmenge gerechnet werden. Denn das Meer ist wärmer und zugleich unruhiger, was beides die Verdunstungsrate erhöht und zur Regenbildung führt. Mehr Regen auf Land bedeutet, daß der Permafrostboden schneller auftaut, die organischen Aktivitäten angeregt werden und möglicherweise mehr Methan, das zuvor eingeschlossen war, freigesetzt wird. (Ob und inwiefern das Methan noch vor der Emission von Bakterien abgebaut wird, die in einem eisfreien Boden stärker gedeihen als in einem gefrorenem, dürfte von Region zu Region verschieden sein und ist Gegenstand der Permafrostforschung.)

Eine deutliche Folge einer frühzeitig im Jahresverlauf von Eis befreiten Küste ist natürlich Erosion. Das Meer, das sowieso schon viel dynamischer ist, als wenn es noch einen "Deckel" von Eis besäße, kann nun ungehindert an der Küste angreifen. Da auch hier Permafrost vorliegt, der dann verstärkt auftaut, wäre ebenfalls mit einem Klimaeinfluß durch Methanemissionen zu rechnen. Methan hat eine etwa 25mal so starke Treibhausgaswirkung wie Kohlendioxid (ist allerdings nicht so langlebig).

Die Arktis verändert sich dramatisch, und das wird nicht ohne Auswirkungen auf den gesamten Planeten bleiben. Allein daß das Abschmelzen der Eisschilde von Grönland (und der Antarktis) inzwischen einen nennenswerten Anteil an der Erhöhung des Meeresspiegels hat, wird von der Wissenschaft als beunruhigendes Zeichen angesehen. Die starke Erwärmung Grönlands und des Nordpols im Sommer 2016 und den Folgemonaten (nicht aber Sibiriens, das zur gleichen Zeit eine Extremkälte verzeichnet hat) ist für sich genommen kein Indiz für die globale Erwärmung. Wohl aber läßt die Reihe an Einzelbeobachtungen von Veränderungen in den letzten Jahren, in der auch der in diesem Jahr beobachtete Meereisverlust an der Nordküste der USA einzuordnen ist, wenig Zweifel an der Vermutung aufkommen, daß hier Kräfte am Walten sind, auf die der Mensch zumindest kurzfristig keinen Einfluß hat. Um aber die mittel- und langfristige Entwicklung zu stoppen, wäre es geboten, hier und heute radikal Treibhausgasemissionen zu vermeiden. Dem steht die Fortsetzung der fossilen Energiewirtschaft nicht nur durch die Trump-Administration, sondern auch beispielsweise durch die deutsche Regierung entgegen, die den weitgehenden Ausstieg aus der Kohleverstromung erst für Mitte dieses Jahrhunderts angepeilt hat.

Je früher im Jahr sich das Eis von der nordamerikanischen Küste zurückzieht und je später es sich nach dem Sommer wieder bildet, desto mehr weckt das Begehrlichkeiten der Erdölindustrie. Denn dadurch werden Fördergebiete zugänglich, die abzubauen sich ansonsten wirtschaftlich gar nicht lohnen würde. Man könnte also von einem weiteren sich selbst verstärkenden Prozeß in der Arktis sprechen. Der allgemein bekannte Klassiker hierzu lautet, daß ein eisfreies Meer mehr Wärme aufnimmt als ein eisbedecktes, was wiederum tendenziell die Eisbildung verhindert, so daß mehr Wärme aufgenommen werden kann, sich weniger Eis bildet, und so weiter.

Im zweiten Fall ist der Homo oeconomicus Bestandteil eines Rückkopplungs- und Verstärkungssystems: Werden Erdöllagerstätten zugänglich, wird der Rohstoffabbau attraktiver, werden vermehrt Treibhausgase emittiert, die wiederum das Klima anheizen, so daß die Tschuktschensee und andere arktische Regionen eisfrei werden. (Daß es sich hier um eine vereinfachte Darstellung handelt und die Attraktivität von Erdöllagerstätten nicht nur vom Klima, sondern unter anderem vom Weltmarktpreis abhängt, ist selbstverständlich.)

Da der CO2-Gehalt der Atmosphäre weltweit weiter steigt, kann man mit einiger Berechtigung vermuten, daß die beobachteten Phänomene eher noch ein arktisches Aufwärmen sind und zunächst "nur" den Auftakt für das eigentliche Geschehen im Zuge der globalen Erwärmung darstellen. Beispielsweise besagen jüngere Neuberechnungen zum Anstieg des Meeresspiegels, daß sich dieser in den letzten zwanzig Jahren sehr viel stärker erhöht hat als angenommen [2] und daß mit einer Erhöhung um bis zu 1,70 Meter bis Ende des Jahrhunderts gerechnet werden muß. [3] Was oftmals nicht erwähnt wird: Die Entwicklung endet nicht im Jahr 2100, sondern setzt sich anschließend nahtlos fort. Enkeltauglich ist der gegenwärtig in den Hochemissionsländern verbreitete Lebensstil gewiß nicht.


Luftaufnahme der Permafrostküste, von der große, halbkreisförmige Landmassen ins Meer abrutschen - Foto: ShoreZone, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr

Nordalaska, 17. August 2012: Küstenerosion der Tschuktschensee Foto: ShoreZone, freigegeben als CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/] via Flickr


Fußnoten:

[1] https://insideclimatenews.org/news/25052017/arctic-sea-ice-disappearing-alaska-climate-change-warm-winter-chukchi-sea

[2] http://www.pnas.org/content/early/2017/05/16/1616007114

[3] http://www.ndr.de/der_ndr/presse/mitteilungen/Bundesamt-fuer-Seeschifffahrt-und-Hydrographie-befuerchtet-staerkeren-Anstieg-des-Meeresspiegels,pressemeldungndr18512.html


31. Mai 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang