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KLIMA/764: Selbstbetrug ... (SB)



Bilanzfälschungen werden normalerweise als Straftatbestand geahndet, im Klimaschutz dagegen ist das eine übliche Praxis. Auf die Vermeidung wirksamer Klimaschutzmaßnahmen mit Hilfe von Rechentricks wird von der Wirtschaft anscheinend mehr Energie verwendet als auf deren Erfüllung.

Heftigere Stürme, Überschwemmungen und Hitzewellen als je zuvor - das sind nur einige der Ergebnisse des neuen, sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC - Intergovernmental Panel on Climate Change). Dieser erste von drei Teilen, die bis Februar 2022 veröffentlicht werden sollen, beschreibt die physikalischen Grundlagen des Klimawandels. [1]

Darin wird klipp und klar festgestellt, dass die menschengemachten Emissionen vor allem von Kohlenstoffdioxid (CO₂), das bei der Verbrennung fossiler Energieträger freigesetzt wird, für den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur und damit für zahlreiche Klimawandelfolgen wie das beschleunigte Anschwellen der Ozeane, das Auftauen von Permafrost, den Rückzug polarer Schelfeisflächen und das Schrumpfen von Gletschern und anderen Eismassen verantwortlich sind.

Der Zusammenhang zwischen globaler Erwärmung und menschengemachten Treibhausgasemissionen ist seit Jahrzehnten bekannt. Mit jedem der sechs Sachstandsberichte, die seit 1990 vorgelegt wurden, werden die Erkenntnisse erweitert und vertieft. Es gibt kein Missverständnis: Nur eine rasche Verringerung der CO₂-Emissionen vermag die globale Erwärmung abzubremsen, nicht aber noch so inbrünstig vorgetragene Lippenbekenntnisse.

Zwischen dem, was laut wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen dringend erforderlich wäre, und dem, was die Regierungen in dem als "historisch" abgefeierten Klimaschutzübereinkommen von Paris (2015) vereinbart haben, besteht eine breite Kluft. Die wird allerdings noch übertroffen von der Kluft zwischen den zugesicherten nationalen Maßnahmen und dem, was davon bis heute tatsächlich umgesetzt wurde.

Nicht einmal das vor sechs Jahren in der französischen Hauptstadt beschlossene Mindestziel, die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, würde auf dem heutigen Kurs eingehalten, ganz zu schweigen vom 1,5-Grad-Ziel, das laut Abkommen nach Möglichkeit erreicht werden sollte. Ein Grenzwert, den die niedrig gelegenen pazifischen Inselstaaten und andere von der globalen Erwärmung existentiell bedrohte Nationen schon lange fordern. Deren Stimmen wurden mit dem vermeintlichen Entgegenkommen der wirtschaftlichen Schwergewichte inzwischen zum Schweigen gebracht.

Die Regierungen, die sich dem Klimaschutz verpflichtet haben, betreiben einen Eiertanz. So wie die Tanzenden sich um die Eier herumwinden, winden sie sich um die Entscheidung herum, die Treibhausgasemissionen entscheidend zu verringern. Denn das würde bedeuten, an den Grundfesten der vorherrschenden Produktionsweise zu rütteln, der Ideologie des permanenten Wirtschaftswachstums. Eine Entkopplung von Wachstum und Emissionen ist nirgends in Sicht. Ein Unternehmen, das sich dieser Ideologie nicht unterwirft, wird niederkonkurriert und geht unter. Die Wirtschaft kämpft mit allen gebotenen und nicht selten auch unbotmäßigen Mitteln für die Wahrung ihrer Vorteile.

Hinlänglich bekannt und beschrieben wurden die Bemühungen der fossilen Energiewirtschaft bereits vor Jahrzehnten, die Folgen des Verbrennens von Erdöl, Erdgas und Kohle für die Atmosphäre und somit für die planetare Energiebilanz zu verschleiern. Der Industrie war schon damals klar, dass sich die Erde aufheizen würde, und das wurde als Anlass genommen, den Zusammenhang zu tarnen. Mal wurden hauseigene Erkenntnisse zurückgehalten, mal internationale Klimaschutzübereinkommen entschärft, indem darin zum Beispiel "flexible Mechanismen" verankert wurden. Diese ermöglichen es den Unternehmen, weiterhin Treibhausgase zu emittieren, sofern sie beispielsweise in vermeintlich klimafreundlichere Technologien in ärmeren Ländern investieren.

Der sogenannte Emissionshandel ist Bestandteil dieser flexiblen Mechanismen. Eigentlich sollte der Handel bewirken, dass die daran beteiligten Unternehmen Energie einsparen, da deren Verbrauch sie teuer zu stehen käme. Die von der Europäischen Union kostenlos ausgegebenen Emissionszertifikate hatten jedoch jahrelang den Markt geradezu überschwemmt. Ihr Preis blieb lange Zeit im Keller, entsprechend niedrig rangierten die Kosten für den Energieverbrauch. Jahrelang stellte sich keinerlei Lenkungseffekt zur Treibhausgasreduktion ein, obschon alle wussten, dass die Zeit drängt.

In dieser Phase des Emissionshandels haben sich Unternehmen mit preiswerten Zertifikaten eingedeckt, was "hedging" genannt wird, um sie erst dann einzulösen, wenn ihr Wert gestiegen ist und sie deutlich mehr für die CO₂-Emissionen bezahlen müssten. Dieses Schlupfloch, das Kostenproblem "einzuhegen", hat die für den Emissionshandel in der Europäischen Union zuständige Kommission den Unternehmen eigens gelassen, indem sie die Zertifikate zum Ende einer Handelsperiode - die letzte endete 2020 - nicht hat verfallen lassen.

Weder Wirtschaft noch Politik allein, sondern ihrer beider Zusammenspiel ist wesentlich dafür verantwortlich, dass angemessener Klimaschutz bislang ein Lippenbekenntnis geblieben ist, und in diesem Zusammenhang selbstverständlich nicht zu vernachlässigen ist die Beteiligung der Mehrheitsgesellschaft, die auf liebgewonnenen Gewohnheiten besteht.

In den internationalen Klimaschutzübereinkommen und nationalen Klimaschutzstrategien und -empfehlungen sind die Vermeidungsstrategien wortgewaltig verankert. Wenn zum Beispiel von "climate intervention" (z. Dt.: "Klima-Intervention") die Rede ist, verbirgt sich dahinter u.a. ein bereits im Experimentierstadium befindliches Geoengineering-Konzept, bei dem in Zukunft Jahr für Jahr Schwefelpartikel in der Stratosphäre versprüht werden sollen, um dadurch das Sonnenlicht abzuschwächen und die Erde abzukühlen. Verheerende Nebenwirkungen wie verstärkter Hunger aufgrund ausbleibender Monsunniederschläge und generell eine geringere Photosyntheseleistung der Kulturpflanzen wird in Kauf genommen. Diejenigen, die solche Vorschläge erwägen, gehen anscheinend davon aus, dass sie selbst nicht von den "Nebenwirkungen" betroffen sein werden.

Mit der Bezeichnung "negative Emissionen" wird in wissenschaftlichen Studien beschrieben, dass das im Pariser Übereinkommen festgelegte Ziel eigentlich gar nicht eingehalten werden muss, sofern es mittels des aktiven Entzugs von CO₂ aus der Atmosphäre in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sozusagen im Rückwärtsgang erreicht wird. Der vermeintliche Vorteil: Man braucht jetzt keine einschneidenden Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen und kann weiter zu Lasten von Mit- und Umwelt so expansiv wirtschaften wie bisher.

Der schwerwiegende Nachteil besteht allerdings darin, dass im Zuge der globalen Erwärmung sehr wahrscheinlich Kipppunkte von globaler Bedeutung überschritten werden, beispielsweise das Abschmelzen des grönländischen Eisschilds und der westantarktischen Gletscher. Dadurch wird die Erderwärmung vollends aus dem Ruder laufen und kann für sehr lange Zeit nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wer "negative Emissionen" für eine ernsthafte Option hält, spielt mit dem Feuer.

Ein weiterer Bilanztrick des internationalen Klimaschutzes besteht in der Formulierung, die Treibhausgasemissionen auf "netto null" (engl.: net zero) bringen zu wollen. Hat man sich erst einmal darauf eingelassen, dass die CO₂-Emissionen nicht tatsächlich auf null zurückgefahren werden müssen, eröffnet sich ein weites Feld an Vermeidungsstrategien. Sollte nicht allein die Begeisterung, mit der die Industrie von "netto null" spricht, den Verdacht wecken, dass es sich um Etikettenschwindel handeln könnte?

Im Juni dieses Jahres berichteten die zivilgesellschaftlichen Organisationen Corporate Accountability, Global Forest Coalition und Friends of the Earth International in dem 24-seitigen Report "The Big Con: How Big Polluters are advancing a 'net zero' climate agenda to delay, deceive, and deny" (z. Dt.: Der große Schwindel: Wie große Umweltverschmutzer eine "Netto-null"-Klima-Agenda vorantreiben, um zu verzögern, zu täuschen und zu leugnen):

"Nach jahrzehntelanger Untätigkeit wetteifern die Unternehmen darum, sich zu verpflichten, 'Netto-null-Emissionen' zu erzielen. Dazu gehören fossile Brennstoffgiganten wie BP, Shell und Total, Tech-Giganten wie Microsoft und Apple, Handelsunternehmen wie Amazon und Walmart, Finanzinstitute wie HSBC, Bank of America und BlackRock, Fluggesellschaften wie United und Delta; und Lebensmittel-, Vieh- und Fleischproduzenten sowie Agrarunternehmen wie JBS, Nestlé und Cargill. Umweltverschmutzende Konzerne liefern sich ein Rennen, wer am lautesten und stolzesten 'Netto-Null'-Emissionen bis 2050 oder zu einem anderen Datum in der fernen Zukunft verspricht. In den letzten Jahren sind mehr als 1.500 Unternehmen 'Netto-null'-Verpflichtungen eingegangen, eine Leistung, die vom Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) und dem UN-Generalsekretär begrüßt wird." (Übersetzung: Schattenblick) [2]

In dem Report wird im Detail nachgewiesen, wie die Unternehmen unter dem Deckmantel des Klimaschutzes weiter wirtschaften wie bisher; teilweise nehmen deren Treibhausgasemissionen sogar zu. "Netto null" macht's möglich.

Im jüngsten IPCC-Bericht der Arbeitsgruppe 1 wird "net zero" 151-mal erwähnt. Allerdings überrascht die Akzeptanz dieses Konzepts durch die Wissenschaftsgemeinde insofern nicht, als dass Klimaforschung wesentlich auf Mathematik und Bilanzierung beruht. Welche politischen Maßnahmen am Ende netto null ergeben, das zu beurteilen sieht die Wissenschaft in der Regel nicht als ihre Aufgabe an. Es sind vor allem Forscherinnen und Forscher im Ruhestand, die anfangen, Klartext zu reden, oder Aussteiger wie Wolfgang Knorr. Der Physische Geograph und Ökosystemwissenschaftler der Universität Lund hat fast drei Jahrzehnte in der Forschung gearbeitet und war auch als Regierungsberater tätig. Im September 2019 hat er seinen Beruf aufgegeben und ist Umweltaktivist geworden. Knorr hat sich wiederholt kritisch gegenüber der "Netto-null-Idee" geäußert, nicht zuletzt weil sich manche Staaten bereits existierende Waldgebiete kurzerhand als Kohlenstoffsenke anrechnen und behaupten, sie hätten dadurch ihre Klimaschutzziele längst erreicht.

"Unabhängig davon, ob die Verwirrung gewollt oder real ist, sollte inzwischen klar sein, dass sich die Hauptakteure im Netto-null-Spiel bereits entschieden haben und die Kohlenstoffsenke natürlicher Ökosysteme als bequemen Weg zur Verwässerung ihrer Verpflichtungen nutzen. Natürlich wird der Buchhaltungstrick am Ende als zusätzliches CO₂ in der Atmosphäre und als zusätzliche Erwärmung zu Tage treten. Aber bis dies allen klar geworden ist, wird keiner der Verantwortlichen mehr im Amt sein." [3]

Der Unterschied zwischen "null Emissionen" und "netto null Emissionen" ist gewaltig. Letzteres ermöglicht es, eine Vielzahl von Lücken auszunutzen. Eine solche Lücke bietet die Idee, einen Ausgleich für CO₂-Emissionen zu leisten, weil man die Aufforstung von Wäldern finanziert. Die Bäume würden genausoviel CO₂ binden, wie von den Staaten, Unternehmen oder Privatpersonen emittiert wird, lautet die Vorstellung. In Pflanzen und Böden sind weltweit 2500 Gigatonnen Kohlenstoff eingelagert; das ist die dreifache Menge des atmosphärischen Kohlenstoffs. Warum also nicht Bäume wachsen lassen, wo es nur irgendwie geht, so dass der Luft Kohlenstoffdioxid entzogen wird?

Nicht bedacht wird bei diesem Konzept, dass es mehr als einer Erde bedürfte, um die vielen, vielen Bäume anzupflanzen, mit denen die CO₂-Emissionen kompensiert werden sollen. Der Widerspruch würde noch eklatanter, leisteten sich alle Menschen den gleichen "ökologischen Fußabdruck" wie ihre wohlhabenderen Artgenossen. Dazu wären mehrere Erden erforderlich, für Deutschland zwei, für die USA vier. Und dabei handelt es sich noch um Durchschnittswerte, bei denen die Unterschiede zwischen den reichsten und ärmsten Menschen innerhalb der jeweiligen Länder noch gar nicht berücksichtigt sind. Der ökologische Fußabdruck beschreibt den Ressourcenverbrauch und die Inanspruchnahme von Ökosystemen wie die Erdatmosphäre als Endlager für Abgase.

Im übrigen entscheidet sich schon in den nächsten Jahren, ob es überhaupt gelingen kann, die globale Erwärmung auszubremsen. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Planet derzeit auf für viele Menschen lebensbedrohliche Weise verändert, ist nicht im entferntesten durch Aufforsten im globalen Maßstab zu kompensieren. Das verdeutlicht eine Rechnung der Biologin Bonnie Waring. Pro Passagier eines Flugs um die halbe Erde von Melbourne nach New York City werden 1600 Kilogramm Kohlenstoff emittiert. Das ist doppelt so viel Kohlenstoff, wie er in einer Eiche von einem halben Meter Stammdurchmesser enthalten ist. [4] Eichen wachsen zwar langsam, aber auch mit dem Aufforsten von Pappeln, die besonders schnell wachsen, würde man, bildhaft formuliert, die davoneilende CO₂-Kurve nicht einholen.

Es spricht nichts dagegen, Wälder aufzuforsten, aber das Klima ist damit nicht zu retten. An der Vorstellung, ein Wald werde es schon richten, was sich die Menschen eingebrockt haben, sind sowieso grundsätzliche Zweifel angebracht. So hat sich der weltweit größte Wald, der tropische Regenwald des Amazonas-Beckens, bereits von einer Kohlenstoffsenke in eine -quelle umgewandelt. Er gibt mehr Kohlenstoff frei, als er zu binden vermag. Besonders aus dem Südosten des Amazonasbeckens entweichen große Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre. Landnutzungsänderungen beispielsweise durch die Plantagenwirtschaft und der Klimawandel haben die Umkehr ausgelöst. Das Amazonasbecken gilt als einer der Kipppunkte, deren Überschreiten globale Auswirkungen zeitigen wird. [5]

Wiederum unter dem Obertitel "netto null" besteht ein längst intensiv betriebener Ansatz vermeintlichen Klimaschutzes in der Vergabe von Kohlenstoffzertifikaten (carbon offsets) für Wälder. Pro Tonne CO₂-Emissionen, die der Atmosphäre entzogen wird, erhält ein am Klimaschutz beteiligter Akteur ein Kohlenstoffzertifikat. Inzwischen wurde allerdings auf einen Teil der Bäume, die sich Staaten, Unternehmen oder andere Interessenten als Kohlenstoffspeicher haben zertifizieren lassen, gleich mehrere Kohlenstoffzertifikate ausgegeben. Wie hoch der Anteil dieser doppelt berechneten "Klimaschutzbäume" an der Gesamtmenge zertifizierter Bäume ist, ist zwar nicht bekannt, die Doppelberechnungen gelten aber als "recht häufig". Anscheinend wollen sich einflussreiche Geschäftemacher nicht die Profite verhageln lassen und lehnen es ab, sich einem umfassenden globalen Zählsystem zu unterwerfen, das solche Buchungstricks verhindert. [6]

Sollte aber irgendwann ein weltweites Zählwerk eingeführt werden und die doppelte Buchführung unterbinden, muss bedacht werden, dass sich bereits die ersten der mit Kohlenstoffzertifikaten belegten Wälder in das aufgelöst haben, was sie auf dem Papier schon immer waren: heiße Luft. Wie die "Financial Times" Anfang August meldete, sind mehrere Waldgebiete in den US-Bundesstaaten Oregon und Washington den dort tobenden Bränden zum Opfer gefallen. [7]

Ungeachtet all dieser Widersprüche in der Erwartung, Wälder könnten die menschengemachte globale Klimakrise lösen, wird seit Jahren das Konzept BECCS (engl. bioenergy with carbon capture and storage; z. Dt.: Bioenergie mit CO₂-Abscheidung und -Speicherung) verfolgt. Im Sechsten Sachstandsbericht des IPCC wird diesem Konzept sogar eine wichtige Rolle bei der Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad zugesprochen. Bei BECCS würden Bäume und andere Pflanzen angebaut, um sie zu verbrennen und dabei den in ihnen eingelagerten Kohlenstoff abzufangen und endzulagern.

Jedoch werden bei einem im globalen Maßstab betriebenen BECCS die beanspruchten Flächen in scharfer Konkurrenz zu den sowieso schon viel zu knappen Landflächen stehen, auf denen Nahrungs- und Futtermittel angebaut werden. Das berichteten die Wissenschaftler Wolfgang Knorr, James Dyke und Robert Watson im April dieses Jahres für "The Conservation". [8] Ihre Stellungnahme hat international weithin Beachtung gefunden. Nur, wem nutzen Beachtung und gelegentlich auch Applaus, wenn daraufhin nicht die notwendigen politischen Entscheidungen getroffen werden?

Vor dem Hintergrund, dass Kohlenstoffdioxid als Treibhausgas wirkt, ist es als Schadstoff zu bewerten. Durch die Vergabe von Verschmutzungsrechten aber wurde das Verschmutzen der Luft rechtlich abgesegnet. Wer es sich leisten kann, darf die Luft weiter verschmutzen. Gleichzeitig wurde ein neues Unrecht in die Welt gesetzt, nämlich das Unrecht, die Luft zu verschmutzen. Wer es sich nicht leisten kann, wird abgestraft. Die entscheidenden Fragen lauten nun: Wer maßt sich an, über Recht und Unrecht zu befinden? Wer übt die Verfügungsgewalt aus? Ausgerechnet jene Staaten, die nicht nur historisch, sondern bis heute hauptverantwortlich für die globale Klimakrise sind.

Durch ihre bevorzugten Produktionsweisen werden alle anderen mit in den Abgrund gerissen. Nur weil nicht alle anderen Staaten auf dem gleichen Verbrauchsniveau angekommen sind, hat sich die Erdatmosphäre noch nicht weiter in Richtung der Atmosphäre der Venus genähert. Indem er den Luftraum oberhalb seiner Staatsgrenzen unfreiwillig zur Verfügung gestellt hat, hat der Globale Süden die Treibhausgasemissionen des Globalen Nordens schon längst kompensiert, ohne dass er dafür entschädigt worden ist. Hätten die Industriestaaten nur ihren eigenen Luftraum als Endlager für Treibhausgase zur Verfügung, wären sie heute unbewohnbar.

Von den Schadensfolgen sind die Länder des Globalen Südens und in besonderer Weise die indigenen Völker mit ihrem extrem niedrigen Ressourcenverbrauch schwer betroffen. Hätten sie über den internationalen Klimaschutz zu bestimmen, wäre dabei etwas vollkommen anderes herausgekommen als das Übereinkommen von Paris. Dann wären die Industriestaaten verpflichtet worden, ihre Treibhausgasemissionen real und nicht nur auf dem Papier zu verringern. Darüber hinaus hätten sie sich ihrer historischen Verantwortung für CO₂-Emissionen stellen müssen. Gewiss wäre auch etwas anderes dabei herausgekommen als die Zertifizierung von Wäldern oder gar, unter dem Zeichen des Naturschutzes, jenen Menschen das Verfügungsrecht zu entziehen, die seit Generationen in und mit den Wäldern gelebt haben.

"Netto null" trägt viele Gesichter, keinem ist zu trauen. Nicht nur der Klimawandel, sondern auch der angetäuschte Klimaschutz wird zum Hungertreiber in der Welt, und das nur, weil die wohlhabenderen Staaten nicht bereit sind, Abstriche von ihrem Energieverbrauch hinzunehmen. Mit "netto null" auf den Fahnen gerät Klimaschutz zum neuen, grünen Kolonialismus.


Fußnoten:

[1] https://www.ipcc.ch/report/sixth-assessment-report-working-group-i/

[2] https://www.corporateaccountability.org/wp-content/uploads/2021/06/The-Big-Con_EN.pdf

[3] https://braveneweurope.com/wolfgang-knorr-trickery-in-climate-neutrality-how-net-zero-is-secretly-being-redefined

[4] https://tinyurl.com/y9xwpdnc

[5] https://www.nature.com/articles/s41586-021-03629-6

[6] https://www.compensate.com/articles/what-is-double-counting-and-why-is-it-such-a-big-deal

[7] https://www.ft.com/content/3f89c759-eb9a-4dfb-b768-d4af1ec5aa23

[8] https://theconversation.com/climate-scientists-concept-of-net-zero-is-a-dangerous-trap-157368

16. August 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 166 vom 21. August 2021


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