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DILJA/11: Headhunter ( 8) - Die Rückkehr (SB)


HEADHUNTER

Teil 8: Die Rückkehr

Science-Fiction-Story


Als Sergio Lampurtini wieder zu sich kam, wäre er am liebsten wieder in die selige Benommenheit seiner Bewußtlosigkeit zurückgefallen. Höllische Kopfschmerzen ließen kaum einen Gedanken daran zu, was überhaupt passiert war. Unbarmherzig pochte der bohrende Schmerz, der von dem Schlag mit einem Gewehrkolben herrühren mußte, mit jedem Herzschlag weiter. Ob Sergio nun wollte oder nicht - die letzten Ereignisse drängten auf ihn ein, zugleich konnte er in einiger Entfernung gedämpftes Stimmengewirr ausmachen.

Schlagartig setzte die volle Erinnerung wieder ein, und er wußte, daß Clarissa und er bewaffneten Banditen in die Hände gefallen waren, kaum daß sie die Grenzsicherungsanlagen überwunden hatten. Und dann waren Schüsse gefallen - oh Gott, wo war Clarissa? Bevor er schachmatt gesetzt wurde, hatte er noch gehört, wie sie neben ihm zischend den Atem anhielt, so als wäre sie von einer Kugel getroffen worden. Wo aber war sie jetzt?

Sergio schlug die Augen auf. Mit einiger Mühe gelang es ihm, seine unmittelbare Umgebung zu identifizieren. Währenddessen nahm sein Schädeldröhnen noch zu. Er befand sich, so weit er es überhaupt erkennen konnte, in einer Felsenhöhle, die den Banditen als Unterschlupf dienen mochte. Viel bewegen konnte er sich nicht, denn seine Hände waren hinter dem Rücken fest zusammengeschnürt; so fest, daß sie fast schon taub geworden waren. Er saß mit dem Rücken zur Wand auf einer alten Decke. Neben ihm stand eine Holzkiste, auf der sich - für ihn unerreichbar - eine Karaffe mit Wasser und ein kleines, angeschimmeltes Stück Brot befanden.

Bei diesem Anblick lief ihm das Wasser im Munde zusammen, denn schlagartig wurde ihm bewußt, wie durstig er eigentlich war. Unwillkürlich zerrte er an seinen Handfesseln; was natürlich nur zur Folge hatte, daß die Schnüre sich um so tiefer in seine Haut eingruben. Sollte das eine perfide Form der Folter sein, Wasser vor Augen zu haben und doch nicht trinken zu können? Sergio zwang sich, den Blick von der Karaffe abzuwenden, doch schon im nächsten Moment wandte er den Kopf wieder in dieselbe Richtung. Seinem Durst nach zu urteilen mußte er viele Stunden bewußtlos gewesen sein.

Der Italiener nahm einen 'Bodycheck' vor, so weit das unter diesen Umständen überhaupt möglich war. Die Glieder schmerzten, er konnte weder Arme noch Beine ausstrecken, doch verletzt war er offensichtlich nicht. Der hämmernde Kopfschmerz war inzwischen einem durchgängigen, halbwegs erträglichen Brummen gewichen. Was ihn nun quälte, war der Durst - die Zunge fühlte sich an wie ein dicker Kloß - und die nagende Sorge um Clarissa. Sergio ließ den Blick schweifen und erkannte, daß außer den lärmenden Spießgesellen, die an einem runden Tisch in der Mitte der Höhle saßen und Karten spielten, niemand da war. Wo mochte Clarissa bloß sein? War sie verletzt? War sie von einer Kugel getroffen worden?

"Hey", rief Sergio den Männern zu, doch seine Stimme war viel zu leise, als daß sie ihm ihre Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Mehr als ein Krächzen brachte er nicht zustande. Wenn er wissen wollte, was mit seiner Frau geschehen war, blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als sich noch einmal an diese Chargen zu wenden. Er schluckte zwei-, dreimal und nahm all seine Kraft zusammen: "Wasser!"

Diesmal mußten die Männer am Tisch ihn gehört haben, denn es trat ein Moment der Stille ein. "Hast du was gehört, Paolo?" hörte er jemanden fragen. "Nee", kam die Antwort, "vielleicht hat in der Ecke ein Mäuschen gepiepst ..." Der Rest ging im dröhnenden Gelächter der Männer unter, die sich nun wieder ihrem Pokerspiel zuwandten. Von Runde zu Runde wurden die Spieler lauter. Der Inhalt einer bauchigen Flasche, die ununterbrochen von einem zum anderen wanderte, mochte ihren Teil dazu beitragen, daß die Wächter nicht im Ansatz daran dachten, sich ihrem Gefangenen zuzuwenden.


*


Weit entfernt, in der Metropole von Brüssel, lehnte sich in einem schallgedämpften Wohnbüro ein Mann mit einem Ausdruck unverkennbarer Genugtuung in seinem Multifunktionssessel zurück. 'Na also', murmelte Jack Clifton, der es aufgegeben hatte, seine Neigung zu Selbstgesprächen unterbinden zu wollen. 'Warum nicht gleich so.' Über den Ticker war soeben eine chiffrierte Meldung eingelaufen, die nur von Mike Rosefield stammen konnte. In den üblichen kurzen Worten wurde die Eliminierung der Zielpersonen Alpha und Beta vermeldet.

Diese an sich eher alltägliche Begebenheit war für den Koordinator aus einem einfachen Grunde so befriedigend: Mike Rosefield hatte ihm damit seinen Respekt gezollt. In nicht einmal zehn Minuten wäre das Ultimatum abgelaufen, das er dem Headhunter zur Erfüllung dieses Auftrag gesetzt hatte. 'Er weiß also doch noch, was sich gehört', sinnierte der Beamte. Daß ihm dabei ein leises Lächeln um die Lippen spielte, wurde ihm nicht einmal bewußt. Wenngleich es Mike Rosefield eigentlich nicht ähnlich sah, hatte er - in den Augen des Koordinators - bei diesem Auftrag ein bedenkliches Ausmaß an Faulheit an den Tag gelegt.

'Mit den Sonderprämien wird es diesmal nichts werden', überlegte der gebürtige Brite weiter, 'das Preis-Leistungs- Verhältnis stimmt einfach nicht.' Mit dem Überlegenheitsgefühl eines Raubtier-Dompteurs ging Jack Clifton nun zu Werke. Einer der gefährlichsten Tiger hatte gegen ihn rebelliert und am Ende doch klein beigegeben. Ernste Schwierigkeiten, so war dem chiffrierten Bericht weiter zu entnehmen, hatte es nicht gegeben; ergo gab es auch keine Entschuldigung für die ungebührliche Verzögerung, mit der Mike Rosefield diesmal seinen Aufgaben nachgekommen war.

'Ohne mich wäre dieser Mistkerl schon längst tot, also hat er auch meine Wünsche zu respektieren.' So und ähnlich kreisten Jack Cliftons Gedanken, der sich in den vergangenen zwei Tagen fast ausschließlich mit diesem Mann befaßt hatte, der sein bester und zugleich unberechenbarster Kopfgeldjäger war. Was war bloß in ihn gefahren? Er hatte die Lampurtinis sogar über die Zonengrenze entkommen lassen, nur um ihnen dann in der Wildnis den Garaus zu machen! Der ganze Ärger, den Sergio Lampurtini mit seinen Sabotageakten an den Sicherungsanlagen verursacht hatte, wäre vermeidbar gewesen, wenn Mike nicht so schluderig gearbeitet hätte. Und darüber verlor der Headhunter kein Wort! Er gab sich nicht einmal die Mühe, sein Versagen zu entschuldigen oder wenigstens zu erklären. "Er hat versagt!" Mit diesen Worten stand der Koordinator auf. Er mußte sich Luft machen angesichts dieses gegen ihn gerichteten Affronts.

'Ich werde ihm einfach die Bezüge kürzen', beschloß der langjährige Verwaltungsbeamte. Doch zugleich beschlich ihn das ungute Gefühl, daß er den Headhunter damit kaum treffen, geschweige denn demütigen würde. 'Den werde ich mir vorknöpfen', Jack Clifton geriet immer mehr in Rage und war drauf und dran, seine ehernen Sicherheitsgrundsätze über Bord zu werfen. Er griff nach seinem Handy, gab ein paar Befehle ein, und binnen kurzem wurde via Satellit eine Funkverbindung zu Mike Rosefields Wagen in der Todeszone hergestellt.


*


"Wasser!!" Sergios Stimme war so laut, daß die Männer am Tisch augenblicklich reagierten. Eine unheilvolle Stille legte sich über die Szene, die noch eben vom Pokerspiel bestimmt war. 'Oh je', dachte der Italiener, als er in die ihm nun zugewandten düsteren Gesichter blickte, 'und ich hatte die Hoffnung gehabt, in der Dürrezone Menschen zu finden, die ...' Weiter kam er nicht mit den in dieser Situation ohnehin deplazierten Betrachtungen, denn einer der Männer stand abrupt auf. Achtlos ließ er seinen Stuhl, der mit einem lauten Krachen zu Boden fiel, nach hinten überkippen. Doch niemand achtete darauf, denn der Mann, der fast 1,90 Meter groß war und bestimmt 120 Kilo wog, griff nach seiner Waffe und kam mit wenigen Schritten auf Sergio zu.

Er beugte sich zu dem Gefangenen hinunter und packte ihn am Kragen. Ehe Sergio sich versah, wurde er hochgerissen. Augenblicklich roch er die Fahne seines Gegenübers, die ihm fast den Atem verschlug. "Hör mal zu, mein Freundchen", sagte der Unbekannte zwar leise, aber mit einem unverkennbar drohenden Unterton. "Du hast hier gar nichts zu vermelden. Du wirst noch früh genug bekommen, was dir hier zusteht." Diese Bemerkung löste bei den übrigen Männern, die am Tisch sitzengeblieben waren und mucksmäuschenstill die Szene verfolgt hatten, eine erneute Lachsalve aus. Die Spannung schien sich etwas gelöst zu haben, so daß Sergio den Mut fand zu sagen: "Wasser! Ich will Wasser!!"

"Wasser?" echote der kräftige Mann, der ihn noch immer fest vor sich hielt. "Habt ihr das gehört?" wandte er sich zu den anderen um. "Er will Wasser!" Sergio konnte sich nicht rühren oder den Griff seines Widersachers lockern, denn seine Hände waren noch immer hinter dem Rücken zusammengebunden. Der Riese hielt ihn nun mit nur einer Hand, mit der anderen langte er mit aufreizender Langsamkeit nach der Wasserkaraffe - und goß Sergio den Inhalt über den Kopf. Der Italiener versuchte, so viele Tropfen zu erheischen wie irgendmöglich, doch seinen Durst vermochte er so natürlich nicht zu stillen. Dem kurzen Moment der Erfrischung folgte ein um so wütenderes Durstgefühl, gepaart und verstärkt durch eine hilflose Wut angesichts dieser demütigenden Lage.

"Vielleicht möchtest du eine Runde mit uns spielen?" fragte der Anführer, den seine Kumpanen Paolo nannten, nun mit falscher Freundlichkeit.

Der ehemalige Hochenergie-Ingenieur griff in seiner Verzweiflung nach jedem Strohhalm, der sich ihm bot. Mehr als ein Nicken brachte er nicht zustande, was die am Tisch Sitzenden mit einem brüllenden Gelächter quittierten.

Ohne ein weiteres Wort schob Paolo den Italiener vor sich her, löste ihm die Handfesseln und verfrachtete ihn unsanft auf einen wackeligen Stuhl. Sergio wurde schwindlig. Er griff an die Tischkante, um sich aufrecht zu halten und sich die Schwäche nicht anmerken zu lassen. Er war leichenblaß und stierte auf die Gläser, die vor seinen Tischnachbarn standen und mit einem ihm unbekannten, aber ganz offensichtlich hochprozentigen Getränk gefüllt waren.

Krachend ließ sich Paolo am Tisch nieder und goß sich in aller Seelenruhe einen weiteren halben Liter ein. "Unser Freund möchte gerne mitspielen", sagte er ungewohnt leise. Die anderen verschafften Sergio etwas Platz auf dem Tisch, einer warf ihm die Karten hin. Der Italiener kam gar nicht dazu, sich zu fragen, was er sich von dieser Pokerpartie eigentlich versprach. Er rieb sich die schmerzenden Handgelenke und faßte die hingeworfenen Karten als Aufforderung auf. Deshalb nahm er sie, mischte, ohne einen seiner Mitspieler anzusehen, und teilte aus.

"Da sieht man doch gleich, daß hier ein Profi am Werk ist", richtete Paolo wieder das Wort an ihn. Sergio hielt mitten in der Bewegung inne, irritiert durch das Gebaren dieses Mannes. "Weißt du denn eigentlich, um welchen Einsatz es hier geht?"

Bei dieser Frage, daran gab es keinen Zweifel, fing die ganze Runde an zu grinsen, so hinterhältig, wie nie zuvor. Sergio kannte solche Blicke und spürte instinktiv, daß ihm nun 'das dicke Ende' bevorstand.

"Na, rate doch mal, mein Freund", fuhr Paolo unbeirrt fort, "um was könnten wir wohl spielen?" Das Grinsen rundum wurde noch eine Spur breiter - und da kam Sergio ein ganz böser Gedanke.

"Wo ist Clarissa? Was habt ihr mit ihr gemacht?" stieß er wutentbrannt hervor und stand von seinem Stuhl auf. Sofort drückte ihn Paolos Pranke wieder herunter. Ohne ein weiteres Wort nahm der Anführer eines der Gläser, füllte es auf und schob es Sergio rüber. Der Italiener nahm es in beide Hände und trank so hastig, daß ihm der Fusel aus den Mundwinkeln lief. Ein fürchterlicher Geschmack. Es mußte etwas Hochprozentiges sein, die Wirkung war unverkennbar.

"Du bist doch wirklich ein kluger Kopf", erwiderte Paolo ungerührt. "Die Frage ist nicht, was wir mit ihr gemacht haben, sondern" - und hier legte er erneut eine effektvolle Pause ein - "wer wird die Runde gewinnen?" Die letzten Worte gingen in einer erneuten Lachsalve der Umsitzenden unter. Doch Sergio hatte genug verstanden. Er schmiß die Karten auf den Tisch und stand auf. Diesmal hielt ihn niemand zurück, als er wieder in seine Ecke ging.

Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Nun, da er nicht mehr gefesselt war, schmiedete er wieder Pläne. Dabei drehte sich alles um Clarissa. Wie konnte er ihr helfen? Um sie zu befreien, mußte er zunächst einmal aus dieser Hölle - aus dieser Höhle - entkommen. Nur noch mit halbem Ohr achtete er auf die nun wieder Poker spielenden Männer am Tisch, die ihn schon längst vergessen zu haben schienen. Daß mindestens Paolo ihn im Auge behielt, war Sergio klar, der die Höhle und vor allem den ihm gegenüberliegenden Ausgang unauffällig inspizierte.


*


Valentin hatte sich etwas entspannt. Bislang hatte er dem Headhunter keinen Anlaß geboten, gegen ihn vorzugehen, und er gedachte auch nicht, das fürderhin zu tun. Allem Anschein nach ging es diesem Grenzgänger um die beiden Italiener und um nichts anderes. Die Mitteilung, daß die Frau schon tot war, hatte er kommentarlos zur Kenntnis genommen - und damit war der kritischste Augenblick überstanden.

Der Bandenchef nahm die ausgebliebene Reaktion des Kopfgeldjägers für sich als günstiges Zeichen. Dennoch mußte er immer wieder seine Erinnerungen bezwingen. Er hatte Menschen gesehen, die von Mike und seinesgleichen übelst zugerichtet worden waren. Vor seinen Männern hätte er niemals eingestanden, daß er sich vor einem Headhunter fürchtete, und doch war es so. Gerade in dieser Region kursierten die absonderlichsten Geschichten über die Grenzgänger.

Skrupel kannte Valentin nicht. Ein Menschenleben bedeutete in der Todeszone nicht mehr als einen bestimmten Nährwert für die ewig Hungrigen. Das war schon lange so. Wer überleben wollte, mußte 'mit den Wölfen heulen'. Einen dritten Weg zwischen Schafen und Wölfen gab es auf dieser Seite der Grenze nicht, und Valentin war mit Sicherheit kein Schaf. Es gab wenige Menschen, die er fürchtete - in diesem Gebiet war er derjenige, der Angst und Schrecken verbreitete. Doch all seine Gefolgsleute und die gesamte militärische Ausrüstung waren völlig unzureichend für einen Krieg gegen den Headhunter, und deshalb war es strategisch wie taktisch nur sinnvoll, seine Wünsche zu erfüllen, auf daß er so schnell wie möglich wieder verschwinden möge.

Momentan saß der Headhunter in seinem Ferrari, wie Valentin mit einem vorsichtigen Seitenblick feststellen konnte. Eine halbe Stunde mochte es noch dauern, bis der überlebende Italiener herbeigeschafft sein würde, und solange mußte er diesen Nervenkrieg noch durchhalten. Wenn nur die Leute im Basislager keinen Mist bauten! Wer weiß, wozu Mike imstande wäre, wenn ihm dieser Lampurtini aus irgendwelchen Gründen nicht ausgeliefert werden könnte? Valentin griff nach seinem Funkgerät, wohlwissend, daß der Headhunter die Frequenz mithörte.

"Wo bleibt ihr denn?" brüllte er hinein, kaum daß die Verbindung zustande gekommen war. "In zehn Minuten will ich den Gefangenen hier haben. Wieso seid ihr noch nicht mal unterwegs?" Die Antwort, die Paolo ihm gab, stellte ihn nicht zufrieden. Er wußte zwar noch nicht wie, aber er würde ein Exempel statuieren müssen.


*


"Hier Zentrale, hier Zentrale 25-DX", ertönte es aus den Bordlautsprechern des Ferraris. Mike Rosefield hatte die Klartextwiedergabe eingeschaltet, nachdem das Signal aus Brüssel eingetroffen war. Einen kurzen Moment lang flackerte sein Haß auf diesen Mann auf, der den Tod des einzigen ihm nahestehenden Menschen - Darja, seiner Frau - befohlen und damit zu verantworten hatte. Wieviele Jahre hatte er in dem fruchtlosen Bemühen zugebracht, neben seiner Tätigkeit als Headhunter in Erfahrung zu bringen, was damals geschehen war? Noch immer lagen die konkreten Einzelheiten im dunkeln, doch die waren nun auch nicht mehr wichtig, wußte Mike doch nun, an wem er Rache nehmen würde.

Mike nahm das Gespräch an. Der Wagen war schallisoliert, so daß weder Valentin noch einer seiner Männer etwas hören konnten. Die vom Sicherheitssystem benutzten Funkfrequenzen abzuhören, war den Hiesigen mit ihren veralteten Technik nicht möglich.

Der Headhunter meldete sich mit einem schlichten "Ja?".

"Identifizieren Sie sich", verlangte sein unsichtbarer Gesprächspartner.

"Hier HY-C05." Mikes Stimme klang noch eine Spur desinteressierter als sonst.

"Wir haben Ihre Vollzugsmeldung erhalten." Der Koordinator sprach in solchen Fällen gerne von sich im Plural, das steigerte noch sein Überlegenheitsgefühl. "Wir erwarten eine Erklärung von Ihnen, warum es diesmal so lange gedauert hat. Wollen Sie unsere Arbeit sabotieren?"

Keine Frage, der Koordinator war ob der langen Verzögerung mißtrauisch geworden. Mikes Verstand arbeitete auf Hochtouren, ging es doch nun einzig und allein darum, diesen Mann aus der Reserve zu locken. Daß er überhaupt mit ihm sprach, wertete der Headhunter als für sich günstiges Zeichen, offenbarte es doch die emotionale Beteiligung seines Gegners.

"Ich habe Ihnen schon 'mal gesagt, daß Sie sich einen anderen suchen können, wenn Ihnen meine Arbeit nicht paßt", ließ Mike sich vernehmen, und sein Tonfall war nun schon etwas schärfer. Er durfte nicht zu bereitwillig auf den Koordinator eingehen, das hätte sein Mißtrauen nur noch verstärkt.

Im weit entfernten Brüssel stand Jack Clifton von seinem Sessel auf. 'Wieso bringt dieser Kerl es nur immer wieder fertig, mich mit seiner frechen Tour so in Rage zu versetzen? Immer wieder dieser respektlose Tonfall, das ist doch zum Aus-der-Haut- Fahren!'

"Sie verkennen Ihre Lage", setzte der gebürtige Brite scheinbar sachlich wieder an. "Sie haben gar nicht die Möglichkeit, diesen Job hinzuschmeißen. Sie wissen ebenso gut wie ich, daß es auf dieser Erde kein Fleckchen gibt, wo Sie sich verkriechen könnten. Mein langer Arm reicht überall hin. Ich möchte mich ungern wiederholen, aber ich sage Ihnen noch einmal, daß Sie meine Wünsche zu respektieren haben."

Jack Clifton hielt kurz inne, und fuhr dann, als Mike schwieg, fort. "Warum also hat die Ausführung des Lampurtini- Auftrags so lange gedauert?"

Um Mikes Lippen spielte ein kleines Lächeln. Offensichtlich war der Koordinator schon so involviert, daß er seine eigenen Sicherheitsgrundsätze außer acht ließ - er hatte die 'Zielpersonen', wie es in der Behördensprache hieß, soeben beim Namen genannt.

Der Headhunter ließ sich nicht anmerken, daß er diesen Fauxpas registriert hatte. "Wenn ich Ihnen das sage", antwortete er und verlieh seiner Stimme einen zerknirschten Tonfall, "werden Sie mir nicht glauben. Deshalb habe ich bislang davon Abstand genommen, Ihnen eine detailliertere Mitteilung zu machen."

"Was werde ich nicht glauben, was denn?" fragte der Koordinator, nun offenkundig neugierig.

"Nichts für ungut, erlassen Sie mir die Antwort. Ich würde es selbst nicht glauben, wenn ich es nicht gesehen hätte." Der Headhunter war mit dem bisherigen Gesprächsverlauf voll und ganz zufrieden.

"Ich befehle Ihnen", erklang die Stimme des Koordinators, nun wieder etwas schärfer, "mir augenblicklich zu sagen, worum es geht."

"Nun gut", erwiderte Mike Rosefield, "Sie haben es so gewollt. Sergio Lampurtini hatte einen Doppelgänger. Vielleicht wissen Sie, wie so etwas möglich ist? Ich kann es mir nicht erklären. Tatsache ist, daß ich den einen tot gesehen habe, wenn Sie verstehen, was ich meine. Doch der andere ... ich weiß nicht, wo dieses Gespenst zur Zeit herumläuft. Gibt's vielleicht ein Geheimprojekt, das so geheim ist, daß nicht einmal Sie etwas davon wissen?"

Einen Moment lang herrschte Schweigen.

"Nein, mit Sicherheit nicht", antwortete der Koordinator bereitwillig, ohne zu realisieren, daß er damit die von ihm sonst so peinlich genau gezogenen Grenzen verwischte. Jack Clifton wußte diese Eröffnung nicht einzuschätzen. Konnte so etwas möglich sein? Konnte der Headhunter sich getäuscht haben?

"Ich kann mir vorstellen, was jetzt in Ihrem Kopf vor sich geht", nahm Mike den Faden wieder auf. "Aber ich versichere Ihnen, daß ich Lampurtinis Lebensimpulse wieder und wieder geprüft habe. Ich habe sie Stunden nach dem Zeitpunkt seines Todes geortet, und nicht nur einmal. Wenn ich nicht selber ..., müßte ich glauben, er wäre noch am Leben. Mangels plausibler Erklärungen habe ich diesen anderen 'Doppelgänger' genannt."

"Ich verstehe", murmelte Jack Clifton, der eigentlich gar nichts verstand. Die ruhig-bestimmte Art des Headhunters zertreute seine letzten Zweifel. Mike Rosefield neigte nun beim besten Willen nicht zu Halluzinationen oder metaphysischen Verwirrungen. Sein Persönlichkeitsprofil belegte das eindeutig. Jack Clifton wußte, daß es ein grober Fehler wäre, einem Headhunter zu vertrauen, doch das war hier gar nicht der Punkt. Es gab einfach keinen plausiblen Grund, warum Mike sich eine solche Geschichte, die ihm keinerlei Vorteile brachte, hätte ausdenken sollen.

"Halten Sie sich zu meiner Verfügung. Ich werde mich wieder melden." Mit diesen Worten unterbrach der Koordinator die Verbindung, denn er mußte nun erst einmal mit sich ins reine kommen. Ganz so sicher, hier nicht auf die Spur eines ihm unbekannten Forschungsprojekts gestoßen zu sein, war er sich nämlich nicht. Nun nagte ein neuer Zweifel in ihm. War das Sicherheitssystem in seiner Erfassung wirklich so vollständig und lückenlos, daß es nicht von kompetenter Seite umgangen werden könnte?


*


"Ruhe!!" brüllte Paolo, als der Lärm am Tisch überhand zu nehmen drohte. Mit einer Hand fischte er nach dem Funkgerät, das soeben zu piepsen begonnen hatte. Mit einer weiteren Handbewegung gebot er seinen Leuten Schweigen; die unmittelbar einsetzende Stille wirkte auf alle Beteiligten ernüchternd. Aus den Antworten, die ihr Anführer seinem unsichtbaren Gesprächspartner nun gab, ließ sich rückschließen, daß die Pokerrunde bald ihr Ende finden würde.

"Verstanden. Wir fahren sofort los", ließ Paolo sich vernehmen. "Ja, es geht ihm den Umständen entsprechend gut", diese Antwort mußte sich auf ihren Gefangenen beziehen. Hier wurde auch Sergio Lampurtini hellhörig. War dies eine Gelegenheit zur Flucht? Der Italiener rechnete sich keine großen Chancen aus. Er war geschwächt und unbewaffnet, die Männer am Tisch wirkten längst nicht mehr so alkoholisiert wie noch vor wenigen Minuten. Mindestens 20 Meter, noch dazu an der Meute vorbei - wie sollte er angesichts dessen den Höhlenausgang erreichen? Unauffällig, so als wolle er sich nur mal eben die Beine vertreten, stand Sergio auf. Keiner der Männer achtete auf ihn. Auch Paolo, der seinen Gefangenen bis dahin nicht aus den Augen gelassen hatte, war nun durch das Funkgespräch abgelenkt. Plötzlich sah er zu ihm herüber, so als hätte er Sergios Gedanken gelesen. Den nächsten Worten konnte der Italiener entnehmen, daß es bei diesem Anruf um ihn ging.

Paolo legte das Funkgerät beiseite, stand auf und kam direkt auf ihn zu. "Mitkommen!" herrschte er ihn sichtbar verärgert an.

"Wohin denn, was habt ihr mit mir vor?" fragte Sergio zurück. Er wollte sich nicht beliebig hin- und herschubsen lassen.

Drohend kam der Anführer noch einen Schritt näher. "Hast du immer noch nicht begriffen, daß du hier keine Fragen zu stellen hast?" Einer der anderen kam hinzu und wollte dem Gefangenen Handschellen anlegen, doch Sergio wich einen Schritt zurück. "Ohne Clarissa gehe ich nirgends hin. Wo ist sie?" Am Tisch wurden die Karten achtlos beiseite gelegt. Die Männer griffen nach ihren Waffen, sie befanden sich im Aufbruch.

"Du willst wissen, wo Clarissa ist?" fragte Paolo den Gefangenen, und seine steinerne Miene blieb ausdruckslos. Sergio wußte sich diese Reaktion nicht zu deuten. "Ja, ich will sie sehen, sofort", fügte er mit fester Stimme hinzu - in der irrigen Annahme, nun durch ihm unbegreifliche Zusammenhänge wieder etwas Oberwasser gewonnen zu haben.

Paolo drehte sich zu einem der Männer um. "Victor, mach den Wagen klar. Wir müssen zum Außenposten." Danach wandte er sich wieder dem Italiener zu und reichte ihm wortlos seine Flasche. Sofort wurde Sergio sich seines noch immer drängenden Durstes bewußt, er ergriff sie mit beiden Händen und trank in hastigen Zügen. Paolo stand neben ihm und beobachtete ihn in aller Seelenruhe. Als Sergio ihm die leere Flasche zurückreichte, fragte Paolo beiläufig: "Du willst Clarissa wirklich sehen?" Sergio konnte nur stumm nicken. Mit einer knappen Kopfbewegung wies Paolo ihn an, ihm zu folgen, und führte ihn zum Höhlenausgang.

Sie traten aus dem Raum heraus, doch befanden sich keineswegs im Freien. Es mußte sich um ein in Erde und Stein gegrabenes Höhlensystem handeln. Die beiden Männer standen nun in einem dunklen Gang; ohne ein weiteres Wort führte Paolo seinen Gefangenen in den noch weiter hinten gelegenen Teil. Hier wurde es noch dunkler, der ohnehin unangenehm-modrige Geruch noch stechender. 'So ähnlich hat es in Corina in der Nähe des Schlachthofs gerochen', kam es Sergio in den Sinn. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Wie war der Gesinnungswandel seines Widersachers zu erklären, der ihm nun plötzlich den Wunsch erfüllen wollte, Clarissa zu sehen?

Sergio stolperte weiter voran, der andere blieb so dicht hinter ihm, daß er seinen Atem im Nacken spüren konnte. Heiß war es in diesen Gängen nicht, doch dem Italiener brach der kalte Schweiß aus. Er schwankte, und sofort faßte Paolo wieder kräftiger zu und stieß ihn nach vorn. Sergio konnte keinen klaren Gedanken fassen, taumelnd machte er die nächsten Schritte. Mittlerweile hatten sie das Ende dieses Ganges erreicht, in dem es merklich ruhiger geworden war - und noch kälter, so kalt, daß Sergio mit den Zähnen zu klappern begann. Diesen Temperaturunterschied konnte er sich auch nicht erklären. Technische Anlagen hatte er in diesen Höhlen nicht ausmachen können; außer ein paar Funkgeräten schienen diese Banditen über keinerlei Technik zu verfügen.

Vor einer dicken Tür aus Holzbohlen blieb der Italiener stehen, denn etwa anderes blieb ihm gar nicht übrig. Mit einem simplen Schlüssel öffnete Paolo die dicke Tür.

"Was ist denn das hier, 'ne Kühlkammer?" fragte der Gefangene, doch seine Stimme klang merkwürdig hohl und längst nicht so unerschrocken, wie er gerne gewollt hätte.

"Ich sag's ja, du bist ein helles Bürschchen", erklang Paolos Stimme dicht hinter ihn. "Zu schade, daß wir dich nicht hierbehalten können."

"Was soll das heißen, was habt ihr mit mir vor?" Nun konnte Sergio seine Angst nicht mehr verhehlen, er gab den ohnehin sinnlosen Versuch auf.

"Wir bringen dich zurück zur Grenze", entgegnete Paolo ungewohnt mitteilsam. Daß er dabei gedankenversunken mit seiner Pistole spielte, konnte kein Zufall sein, doch Sergio glaubte ohnehin, daß sein letztes Stündchen geschlagen hatte. "Ich hätte dich wirklich gerne hierbehalten, du hättest uns nützlich sein können", fuhr Paolo fort, "doch daraus wird nun nichts."

Der ehemalige Hochenergieingenieur wußte nicht so recht, ob er das als Kompliment auffassen sollte. Allem Anschein nach drohte ihm im Moment keine Gefahr, so daß er unwillkürlich tief durchatmete. Dabei stieg ihm erneut der latent in diesen Gängen hängende Geruch - oder wohl eher Gestank - in die Nase, der ihn immer mehr an die Coriner Schlachthöfe erinnerte.

"Und wieso wollt ihr mich zur Grenze zurückbringen?" nahm er den Faden wieder auf. Paolo bedachte ihn mit einem langen, schwer zu deutenden Blick. "Höhere Gewalt", sagte er nur, und der Italiener war sensibel genug, um jetzt nicht weiterzufragen.

Fast meinte er, nun so etwas wie Mitleid in dem Gesicht des anderen, der ihm so übel mitgespielt hatte, lesen zu können. Da fiel ihm etwas ein. "Und wo ist nun Clarissa?" fragte er und fügte hinzu: "Eines sag' ich dir gleich, ohne sie gehe ich hier nicht weg."

"Vielleicht solltest du dir das noch einmal überlegen", murmelte Paolo und schob seinen Gefangenen, der noch immer in der Türöffnung stand, in den dahinterliegenden Raum. Sergio traute seinen Augen nicht: In den Boden waren, so weit er es in dem Halbdunkel erkennen konnte, riesige Eisklötze eingelassen. Kein Wunder, daß es hier winterlich kalt war! Doch wozu das alles?? Paolo schob ihn zur Seite und dirigierte ihn auf einen der Tische zu, deren Umrisse Sergio nun ausmachen konnte, nachdem sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Den Konturen nach zu schließen lag etwas auf dem Tisch, was ein Mensch hätte sein können - und in diesem Moment kam ihm ein furchtbarer Verdacht.

Ohne zu zögern ging Paolo auf den Tisch zu, stellte seine Petroleumlampe hin, zog die Decke weg, die auf der Leiche gelegen hatte, und ging wieder einen Schritt zurück. Augenblicklich fing Sergio zu schreien an, denn was er nun sah, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen.


*


In aller Seelenruhe stieg Mike Rosefield aus seinen Ferrari aus und schlenderte auf den Unterstand zu, in dem, wie er wußte, Valentin hinter einem wackeligen Schreibtisch saß. Der gebürtige Franzose, der es gewohnt war zu befehlen, wirkte in diesem Moment alles andere als souverän.

"Nun, gibt es ein Problem?" erkundigte sich der Headhunter und lehnte sich an die Türöffnung. Valentins angstvoller Blick ruhte auf ihm, er suchte offensichtlich nach Worten.

"Wo ist Sergio Lampurtini?" fragte Mike nun schon etwas schärfer.

"Sie sind unterwegs. Meine Leute bringen ihn her. Sie müßten gleich hier sein", antwortete Valentin.

"Das hast du mir vor einer Viertelstunde auch schon gesagt. Deshalb frage ich, ob es ein Problem gibt."

'Wie schafft dieser Mann es bloß, daß von ihm immer eine Bedrohung ausgeht, und wenn er noch so gelassen spricht', sinnierte Paolo, und entschied sich, daß es das beste sei, dem Grenzgänger reinen Wein einzuschenken.

"Wenn ich die Wahrheit sagen soll", begann er recht unbeholfen.

"Ich bitte darum", ermunterte Mike ihn mit einem hintergründigen Lächeln.

"Also, nun, es ist so", stammelte Valentin. "Ich hab' meine Leute gut im Griff. Ich meine, die tun, was ich sage, keine Frage. Aber manchmal, da haben sie's nicht ganz so eilig, oder es fällt ihnen noch was ein. Und ich fürchte, daß das jetzt auch so was ist. Nichts Ernstes, nur eben 'ne Verzögerung."

"Für mich ist 'ne Verzögerung, wie du es nennst, eine ernste Sache. Mir ist egal, wie du es anstellt, aber ich will in zehn Minuten losfahren, und zwar mit Sergio Lampurtini im Gepäck - lebend und bei guter Gesundheit. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Wie du das anstellst, ist mir egal, mich interessieren deine Probleme nicht."

Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, machte der Headhunter auf dem Absatz kehrt. Valentin griff sofort nach seinem Funkgerät. Es dauerte ein paar Minuten, bis er Paolo an der Strippe hatte. Seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut, denn sein Gefolgsmann hätte wissen müssen, daß in diesem Fall Eile geboten war, schließlich hatte er ihm gesagt, daß ein Grenzgänger aufgetaucht war. Valentin ließ sich auf Paolos Erklärungen nicht ein, er sagte nur einen Satz: "Wenn du in fünf Minuten mit dem Italiener nicht hier bist, bring' ich dich um."


*


Eine Staubwolke kündigte das Herannahen des Geländewagens an. Längst waren die zehn Minuten verstrichen, die der Headhunter Valentin eingeräumt hatte. Der Franzose sprang auf und ging dem Wagen entgegen, auch Mike Rosefield schlenderte heran. Paolo, ein Fahrer und weitere fünf bewaffnete Männer als Begleitung - und ganz hinten saß zusammengekauert ein Mann, der Sergio Lampurtini hätte sein können. Valentin knöpfte sich sofort Paolo vor, doch Mike achtete nicht weiter auf sie. Er ging um den Wagen herum, öffnete die hinteren Türen - und richtig: Der Mann, der hier zusammengekauert hockte, mußte der Beschreibung nach, die der Headhunter immer noch im Kopf hatte, Sergio Lampurtini sein.

Der Italiener reagierte nicht, er schien Mike nicht einmal bemerkt zu haben. Sein Blick war ins Leere gerichtet, er brabbelte unaufhörlich vor sich hin. Der Kopfgeldjäger ging um den Wagen herum und baute sich vor Paolo auf.

"Was habt ihr mit ihm gemacht?" fragte er leise, und wie auf ein geheimes Kommando verstummten die zuvor lauthals streitenden Männer.

Paolo sah hilfesuchend zu Valentin, doch der dachte nicht daran, seinem Untergebenen beizustehen.

"Nun", begann Paolo, "er hat gerade ein traumatisches Erlebnis hinter sich."

"Und was für ein 'traumatisches Erlebnis' war das?" bohrte der Headhunter weiter und kam noch ein bißchen näher.

"Er hat gerade seine Frau gesehen, bevor wir losfuhren. Seine tote Frau, meine ich." Paolo meinte, damit nun alles gesagt zu haben.

"Und das hat ihn so schockiert, daß seine Haare grau geworden sind? Das glaube ich dir nicht." Die Situation spitzte sich zu, die umstehenden Männer hielten den Atem an. Sie wußten, daß Paolos Leben am seidenen Faden hing. In dieser Region einen Fehler zu machen, konnte sehr schnell sehr tödliche Folgen haben. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, Paolo gegen den Headhunter beizustehen, der nicht einzuschätzende technische Möglichkeiten hatte. Zum anderen wog der Ruf der Grenzgänger, daß kein Mensch je einen Angriff auf einen von ihnen überlebt hätte, hier besonders schwer.

"Also, was habt ihr mit ihm gemacht?" fragte Mike unbeirrbar weiter.

"Na ja, wenn du mich so fragst ... es muß ihn recht unvorbereitet getroffen haben, denn er wußte nicht, daß sie tot ist. Und ..."

"Und?"

"Na ja, du weißt doch, wie das hier ist. Man darf einfach nichts verkommen lassen."

Mike hatte genug gehört. Er kehrte zum Geländewagen zurück und griff Sergio behutsam unter die Arme. Der Italiener ließ alles teilnahmslos mit sich geschehen. Der Headhunter hob ihn vorsichtig aus dem Wagen heraus und trug ihn zu seinem Ferrari hinüber. Sergio war zwar bei Bewußtsein, aber man sah ihm an, daß sein Faden zur Realität längst gerissen war. Mike verstaute ihn auf dem Beifahrersitz und ging noch einmal zu den Männern, die die ganze Szene schweigend beobachtet hatten.

"Das tut mir wirklich leid", hob Valentin an. "Wenn ich gewußt hätte, daß dieser Mann für dich so wichtig ist ..."

"Schweig. Wie gesagt, eure Probleme interessieren mich nicht. Ich möchte euch sogar noch entgegenkommen und euch warnen. Wenn auch nur einer von euch" - und hier machte Mike eine Pause und sah einen nach dem anderen genau an, so als wolle er sich die Gesichter für immer einprägen - "jemals irgendjemandem davon erzählt, mich oder diesen Mann hier gesehen zu haben, werdet ihr alle dafür bezahlen müssen. Verstanden?"

Alle nickten. Sie waren augenscheinlich froh, noch einmal davongekommen zu sein. Im Weggehen hörte Mike noch, wie eine Pistole entsichert wurde. Er war sich seiner so sicher, daß er sich nicht einmal umdrehte. Ein gellender Schuß peitschte durch die Stille, ein kurzes Röcheln - und dann wieder Stille. Unbeirrt ging der Headhunter weiter und stieg in seinen Wagen. Nicht einmal sah er zurück, denn er kannte Männer wie Valentin gut genug, um zu wissen, daß der Anführer soeben Paolo exekutiert hatte.


*


"Sergio, kannst du mich hören?" Wieder und wieder versuchte der Headhunter, den Italiener zu erreichen. Doch dessen Augen blieben starr, er ließ nicht erkennen, ob er überhaupt ein Wort verstanden hatte.

'Was mach' ich bloß mit ihm', sinnierte Mike weiter. 'Solange noch Leben in ihm ist, müßte er doch noch ansprechbar sein. So weit ich das sehen kann, ist er körperlich unverletzt.' Doch was hieß das schon? Sollte er mit diesem völlig teilnahmslosen Sergio die Rückfahrt antreten? Andererseits, was hielt ihn hier? Wie auch immer seine weiteren Pläne aussehen mochten, früher oder später würde er nach Brüssel zurückkehren, zum letzten Countdown.

Mike stellte den Beifahrersitz so ein, daß Sergio bequem liegen konnte. Vielleicht würde er sein entsetzliches Erlebnis verkraften, wenn er im Schlaf Zuflucht suchte? Der Headhunter fuhr los, langsam, um Sergio nicht durch eine zu schnelle Beschleunigung zusätzlich zu irritieren. Die wenigsten Menschen konnten auf Anhieb mit den gewaltigen Beharrungskräften zurechtkommen, die der Gravitationsneutralisator entgegen seines Anspruchs nicht vollständig auszugleichen vermochte.

Mike behielt den Italiener unentwegt im Auge und achtete auf die kleinste Regung. Er konnte sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß er sehr wohl verfolgte, was um ihn herum vor sich ging.

"Sergio!" versuchte der Headhunter noch einmal, seinen künftigen Begleiter anzusprechen. "Hast du Hunger? Möchtest du etwas trinken?" Doch noch immer reagierte der Flüchtling nicht. Mike blieb nichts anderes übrig, als langsam immer weiter zu fahren. Der Unterstand der Banditen verschwand aus ihrem Blickwinkel, sie fuhren nun auf offener Strecke auf die Grenzanlagen zu.

Als sie sich bis auf zwanzig Meter den hochenergetischen Sperranlagen genähert hatten, ging ein deutlicher Ruck durch Sergio. Mike war überrascht, als er sah, wie der Italiener sich ihm zuwandte und mit völlig klarer, wenn auch belegter Stimme fragte: "Wie willst du denn durch die Anlagen kommen?"

Hier schluckte sogar der Headhunter, bevor er sich beeilte, diesen Anknüpfungspunkt nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

"Ich habe eine energetische Funkverbindung zur Sicherheitszentrale in Brüssel. Auf einen bestimmten Impuls hin, den ich hier im Wagen aussenden kann, wird um den Ferrari herum ein hochenergetisches Vakuum erzeugt, das uns eine sichere Passage durch die Sperranlagen erlaubt."

Sergio schien darüber nachzudenken. Mike Rosefield war sich darüber im klaren, daß er unmöglich alles verstanden haben konnte. Ihm kam es zunächst einmal darauf an, Sergios aufflackerndem Lebenswillen neue Nahrung zu geben.

"Aber was ist mit den Minenfeldern?" fragte der Italiener weiter.

"Das ist kein Problem. Sieh hier, die kann ich orten."

Und tatsächlich beugte sich der ehemalige Hochenergie- Ingenieur zu Mikes Console hinüber, um die darauf installierten Anlagen eingehend zu studieren.

"So was habe ich ja noch nie gesehen", murmelte er noch, bevor er, von einer Sekunde auf die andere, bewußtlos in seinem Sitz zusammensank. Unterdessen hatten sie die Demarkationsanlagen, deren Durchquerung Sergio so unendliche Mühen gekostet hatte, wieder hinter sich gelassen. Sie befanden sich, welch Ironie des Schicksals, nun wieder in der 'Lebenszone'. Leben?!

(Ende des 8. Teils)


*


Offensichtlich will der Headhunter Sergio Lampurtini, also den Mann, den er hätte liquidieren sollen, in seine eigenen Pläne miteinbeziehen. Wird der Italiener dazu aber bereit und in der Lage sein? Muß er nicht in Mike Rosefield seinen Feind sehen?

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 9: Der Countdown läuft


Erstveröffentlichung am 9. August 1996

5. Januar 2007