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DILJA/15: Headhunter (12) - Der letzte große Knall (SB)


HEADHUNTER

Teil 12: Der letzte große Knall

Science-Fiction-Story


Die Genter Kerkeland Straat lag wie ausgestorben in der fahlen Morgensonne. Selbst die wenigen Vögel, die hier sonst ihr Auskommen suchten, schienen die Luft anzuhalten und gaben keinen Piepser von sich. Ein uneingeweihter Beobachter hätte in unmittelbarer Umgebung des Bungalows Nr. 12 nicht ahnen können, daß er hier buchstäblich auf einem Pulverfaß saß. Daß etwas im Busche war, konnten Anwohner und Nachbarn in diesem stillen Wohnviertel förmlich riechen; sie hatten längst einen siebten Sinn für brenzlige Situationen entwickelt.

Nicht wenige von ihnen verließen in mehr oder minder verborgener Eile ihre Häuser. Hausfrauen, Berufstätige, Schulkinder - fast wäre es ihnen gelungen, dieser unwirklichen Szenerie den Anstrich der Normalität zu geben, wenn nicht hier und da eine etwas zu hastige Bewegung gewesen wäre. Für Major O'Connor, den obersten Befehlshaber der Einsatztruppen vor Ort, war auch dies ein vertrautes Phänomen. Zu oft schon hatte er solche und ähnliche Operationen durchgeführt, um noch amüsiert sein zu können über dieses absurde Theater, dessen unfreiwillige Akteure ohne jede Inszenierung bestens aufeinander abgestimmt zu sein schienen.

"Die Angst der Menschen ist der beste Regisseur", murmelte der 48jährige Militäroffizier, während die Digitalanzeige seines Armbandchronometers, die er kaum aus den Augen ließ, unaufhaltsam von einer Zahl zur nächsten wechselte.

"Haben Sie etwas gesagt, Sir?" fragte Sergeant O'Brian, seine 'rechte Hand', in gewohntem Eifer.

"Nein", knurrte O'Connor ihn an. "Passen Sie lieber auf, was da drüben vor sich geht!"

Sergeant O'Brian ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Nervosität seines Vorgesetzten ängstigte. Er kannte den Major gut genug, um zu wissen, daß dieser nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen war. Was also ging hier vor, wenn doch in diesem Haus, auf der Straße sowie in der näheren und weiteren Umgebung alles ruhig zu sein schien, zu ruhig vielleicht?

Weit und breit war kein Gegner zu sehen, kein militärisch lohnenswertes Ziel auszumachen. Ihr Auftrag, und das war dem Sergeant bekannt, lautete schlicht und ergreifend, einen VIP-0 zu schützen, der sich mit zwei weiteren Personen in diesem Bungalow befand. Eigentlich eine Routineangelegenheit, und doch lag hier irgendetwas in der Luft. O'Brian warf einen scheelen Seitenblick auf den Major, der ihn jedoch nicht im mindesten beachtete. Der gebürtige Portugiese hielt in der rechten Hand einen kleinen Impulsgeber fest umklammert, starrte jedoch ununterbrochen auf seinen Chronometer.

Ohne aufzusehen, erkundigte er sich mit belegter Stimme: "Immer noch nichts?"

"Nein, Sir", antwortete O'Brian. "Kein Impuls aus dem Haus, keine feststellbaren Aktivitäten, keine Nachricht von der Zentrale."

"Verdammt noch mal", fluchte O'Connor mit halberstickter Stimme. "Ziehen Sie die Schützen noch um zwanzig Meter zurück."

"Aber Sir, der Mindestabstand ...", setzte O'Brian zum Widerspruch an.

"Tun Sie, was ich Ihnen sage", bellte der Major, "sonst knall' ich Sie auf der Stelle ab!"

Der Sergeant gab diesen unvorschriftsmäßigen Befehl nun unverzögert weiter. Sollte der Typ doch sehen, wie er mit dem Ärger fertig wurde, den er sich damit einhandelte! Dann hörte er den Offizier noch flüstern: "X minus null. Ich muß es tun." Nahezu zeitgleich setzte ein unheimliches Dröhnen an, so als würden riesige Maschinen zum Leben erwachen. Jason O'Brian sah sich um, doch nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Der Boden schien zu vibrieren, ein Blick in Major O'Connors Gesicht verriet ihm, daß sein Vorgesetzter sehr genau wußte, was nun passieren würde.

'Warum', so überlegte O'Brian weiter, 'sollten die Schützen zurückgezogen werden, obwohl der Major ansonsten doch so akribisch auf die Einhaltung der Dienstvorschriften pochte?' Noch während der 27jährige darüber rätselte, ob sie sich hier in unmittelbarer Lebensgefahr befanden, zerriß eine mehr als ohrenbetäubende Detonation die eben noch trügerische Stille des Morgens. Sekunden später wurde Sergeant O'Brian von einer Druckwelle erfaßt, die ihn an die Außenwand des Kombis schleuderte, in dem sie ihren provisorischen Befehlsstand errichtet hatten. Hart prallte er mit dem Hinterkopf auf und verlor für einen Moment das Bewußtsein.


*


Die Sekunden verstrichen im Zeitlupentempo, so als würden sie sich klammheimlich an den Todesängsten der beiden Männer weiden. Mit kalkweißem Gesicht stand Sergio Lampurtini in dem verwüsteten Wohnzimmer des Bungalows Kerkeland Straat Nr. 12. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, und doch rührte er, unfähig zu jeder Aktion, nicht einen Finger.

"Ich will nicht sterben", wiederholte er mit rauher Stimme, und diesmal war er sich darüber im klaren, daß ihn niemand hören würde, sah man einmal von dem schwerverletzten Koordinator ab, der völlig apathisch in seinem Sessel hing und augenscheinlich mit dem Leben abgeschlossen hatte.

'Oder schnallt dieser Idiot überhaupt nicht, was in wenigen Sekunden passieren wird?' überlegte Sergio in fieberhafter Eile, denn noch war er unschlüssig, ob er diesen gequälten Menschen nun retten sollte oder nicht. 08.15 Uhr zeigte seine Digitalanzeige unbarmherzig an, und das bedeutete, wie der Italiener voller Panik begriff, daß dieses Haus jeden Moment in die Luft fliegen konnte!

Kurz entschlossen, nach einem letzten mitleidigen Blick auf den halb bewußtlosen Mann, hetzte Sergio Lampurtini zur Tür. Er wollte sein Heil in der Flucht suchen, sein Leben hing ohnehin nur noch an einem seidenen Faden. 'Es ist sowieso zu spät, um diesen Typen mit hinaus zu schleppen', dachte er noch, während er mit wenigen Sätzen die Haustür erreichte. 'Was also nützt es ihm, wenn ich mit ihm sterbe?' Und außerdem - und das war sein buchstäblich letzter Gedanke - hat er sich sein Ende selbst zuzuschreiben, schließlich hat er diese verfluchte Sprengung ...

Sergio Lampurtini hatte kaum die Hand auf die Türklinke gelegt, als die Katastrophe über ihn hereinbrach. Ihm blieb nicht einmal mehr die Zeit, den ohrenbetäubenden Knall dieser gewaltigen Explosionskette wahrzunehmen, die aus rund um den Bungalow versteckt angebrachtem Plastik-Sprengstoff herrührte. In Bruchteilen von Sekunden begriff er, daß er dieser Hölle nicht mehr entkommen konnte, es war zu spät. All die Fragen, die ihn ungeachtet aller Panik eben noch beschäftigt hatten, würden nun für immer ungefragt bleiben: Wie hatte der Headhunter so schnell entkommen können? Wäre es vielleicht doch klüger gewesen, sich diesem Barbaren an die Fersen zu heften?

Der Bungalow stürzte ein wie ein Kartenhaus, die in sich zusammenfallenden Wände begruben die beiden Männer unter sich. Der Koordinator hatte trotz seiner vielen Wunden, der brennenden Schmerzen und einer aufsteigenden Ohnmacht die letzten Minuten und Sekunden in völliger Klarheit durchlitten.

"Das ist nun der Dank", murmelte er noch, als er mit halbgeschlossenen Augenlidern beobachtete, wie der Italiener zunächst unschlüssig vor ihm stand und sich dann, als habe er nun einen Entschluß gefaßt, abrupt abwandte und auf die Tür zueilte. Bis zum letzten Augenblick drückte Jack Clifton mit erlahmenden Kräften auf seinen Signalgeber, der doch hätte verhindern sollen, was nun unaufhaltsam auf ihn zukam. Das handlich-kleine Gerät blieb energetisch tot, zeigte absolut keine Reaktion, und das konnte nur bedeuten, daß die Zündung exakt um 08.15 Uhr aktiviert werden mußte, so wie er selbst es angeordnet und gewollt hatte! Wie eine Maus saß er in der Falle!!

"Oh warum nur, warum, womit habe ich das verdient?" jammerte Jack Clifton, der unabhängig von dem kurz bevorstehenden Ende spürte, wie ihm die Kräfte zu schwinden drohten. Und doch überschlugen sich in seinen Gehirn Gedankenfetzen, als wollten sie noch retten, was nicht mehr zu retten ist: 'Einen technischen Versager dieses Gerätes darf es gar nicht geben! Völlig undenkbar! Absolut ausgeschlossen!! Sollte da dieser Schweinehund Mike Rosefield seine Finger im Spiel gehabt haben? Ausgerechnet der? Der müßte mir doch dankbar sein, schließlich habe ich ihm ein neues Leben geschenkt!' Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Italiener vor der Tür stand. "Du feiger Hund, da machst du dich aus dem Staub!" rief er ihm nach, aber seine Stimme war schon zu schwach, als daß Sergio Lampurtini diese Worte noch hätte hören können, als die im Umkreis von 50 Metern alles Leben auslöschende Explosion den Bungalow erfaßte.

Aufgrund der extremen Hitze, die durch die gestaffelten Explosionswirkungen im Innern des Hauses entstand, würde hinterher an eine Bergung der Leichen nicht zu denken sein; mehr als eine amorphe Masse mit kaum zu identifizierenden biologischen Anteilen würde nicht zurückbleiben. Eine chemische Analyse der verkohlten bzw. geschmolzenen Rückstände vor Ort würde lediglich einen vagen Anhaltspunkt dafür liefern, daß hier zwei Menschen den Tod gefunden hatten.


*


In der Kerkeland Straat Nr. 15, einem zweistöckigen Wohnhaus schräg gegenüber des Bungalows Nr. 12, hatten zehn Scharfschützen Stellung bezogen. Ein ahnungsloser Passant hätte in dieser stillen Wohnstraße nicht im mindesten ahnen können, daß unzählige hochkalibrige Schnellfeuergewehre auf ihn gerichtet waren. Die Scharfschützen ließen ihn nicht aus dem Fadenkreuz, einfach weil es weit und breit keine andere Zielscheibe gab, die ihnen die Möglichkeit geboten hätte, ihre Langeweile zu vertreiben.

Seit drei Stunden ging das nun schon so. Die Soldaten, die als Angehörige eines Sondereinsatzkommandos der Brüsseler Zentrale unterstanden, harrten mit schmerzenden Gelenken in ihren Positionen aus. Der Zeitpunkt X rückte immer näher. Sie hatten auf jede Kleinigkeit zu achten, die sich in oder um den Bungalow herum ereignete, der mit den Zielfernrohren ihrer Gewehre bis ins kleinste Detail auszumachen war.

Die Befehle Major O'Connors waren eindeutig: Sie hatten die kleinste Veränderung zu melden und ansonsten ständige Feuerbereitschaft zu halten, was im Klartext bedeutete, den Bungalow ununterbrochen vor der Flinte zu haben, um bei den geringsten verdächtigen Anhaltspunkten sofort schießen zu können.

Sergeant Miller, ein gebürtiger US-Amerikaner, den es in den Westen verschlagen hatte, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Warten zerrte an seinen Nerven, noch dazu war die Befehlslage nicht so klar, wie er es gern gehabt hätte. Das ergab sich aus der Besonderheit dieses Auftrags, den VIP-0 mit allen Mitteln zu beschützen. Die Identität dieses VIP lag jedoch im Dunkeln. Außer seinen Individualimpulsen lagen keine Identifizierungsmerkmale vor, die es den Scharfschützen in vorderster Linie ermöglicht hätten, den VIP von den beiden anderen Menschen, die sich mit ihm in diesem Haus befanden, zu unterscheiden.

Der Nordamerikaner behielt den Impuls-Dekoder fast ununterbrochen im Auge. Das Gerät war auf den Bungalow und dessen unmittelbare Umgebung fokussiert und hätte nach allem, was Miller über diese Technik wußte, eigentlich ein absolut zuverlässiger Indikator sein müssen, der unmißverständlich über Identität und präzisen Aufenthaltsort der drei Personen Aufschluß gab. Und doch tat der Impuls-Dekoder so, als würde sich niemand innerhalb des Hauses aufhalten!

"Falke an Sperling, Falke an Sperling", dröhnte es aus der Ohrmuschel seines Handys.

"Hier Sperling", meldete sich Miller über sein schallisoliertes Funksprechgerät.

"Achtung! X-2, bleiben Sie auf Position. Countdown läuft. Keine der Zielpersonen darf entkommen, wir rechnen damit, daß ab dem Zeitpunkt X die Impulserfassung wieder aktiv wird. Haben Sie verstanden? Ich wiederhole: Keine der Zielpersonen darf entkommen."

"Was ist mit dem VIP?" fragte Miller ungeduldig zurück. "Wißt ihr was darüber, ob er noch drinnen ist?"

Nach einem kurzen und doch unverkennbaren Verzögerung kam eine Antwort, die dem Scharfschützen wenig weiterhalf. "Sagte ich nicht, daß die Impulserfassung zur Zeit ausgefallen ist? Rausgekommen ist der VIP bislang jedenfalls nicht. Und nun los. X-1. Falke Ende."

Sergeant Miller holte noch einmal tief Luft. 'Wenn ich jetzt einen Fehler mache', so grübelte er, während er die Haustür von Nr. 12 erneut ins Visier nahm, 'kann es schnell mein letzter sein.' Die zwei Verdächtigen durften auf keinen Fall entkommen, und das bedeutete normalerweise, einfach draufzuhalten, wenn sich irgendwo etwas regte, und hinterher die Leichen zu identifizieren. Doch leider, leider gab es in diesem Fall immer noch diesen VIP, und dem durfte nun 'mal kein Härchen gekrümmt werden ... Miller pfiff leise durch die Zähne, und dann, als hätte es ein unsichtbares Kommando gegeben, überschlugen sich die Ereignisse, kaum daß die Digitalanzeige auf 08.15 Uhr sprang.

Mindestens drei Dinge geschahen gleichzeitig. Ronald Miller fiel zuallererst ein lautes Klirren auf. Eine der Fensterscheiben in Nr. 12 - von ihm aus gesehen rechts neben der Haustür - zerbarst. Ein Mann, der nun schreiend aus den Scherben aufzustehen versuchte, mußte sich kopfüber durch die Scheibe geworfen haben. Doch bevor Miller seine Waffe auf den Verdächtigen schwenken konnte, wurde er eines Vibrierens gewahr, das von dem Bungalow auszugehen schien und die Luft förmlich zerriß, so als wären hochenergetische Strahlen einer Frequenz freigesetzt worden, die jegliche Struktur organischer wie anorganischer Materie zum molekularen Einsturz brachte.

Die Impulserfassung zeigte noch immer nichts an, dabei stand der um Hilfe rufende Mann keine 30 Meter von ihm entfernt. Das Dröhnen schien sich noch zu verstärken; Miller wurde kreidebleich, denn ihm kam eine furchtbare Erinnerung. Furchtbar im wahrsten Sinne des Wortes; der Amerikaner wußte, daß er aus dieser Nähe unmöglich überleben konnte, was in wenigen Sekunden passieren würde. 'Was ist da bloß schiefgelaufen', murmelte er dann mit einer Gelassenheit, so als gingen diese Ereignisse ihn persönlich nicht das Geringste an, und nahm dann den Mann auf der Straße erneut aufs Korn.


*


Mit voller Konzentration auf die in wenigen Minuten zu bewältigenden Vorbereitungen überließ Mike Rosefield die beiden Männer ihrem Schicksal. Sergio Lampurtini, für den der ehemalige Headhunter sich in gewisser Weise noch verantwortlich gefühlt hätte, war voller Mitgefühl zu dem schwerverletzten Koordinator hinübergegangen und hatte damit noch einmal deutlich gemacht, auf wessen Seite er stand. 'Diese beiden kann ich getrost sich selbst überlassen', war Mikes letzter Gedanke zu diesem Thema, 'die werden nicht einmal merken, daß sie mich jetzt angreifen könnten.'

Und wie immer lag der Headhunter mit seiner Einschätzung richtig; die beiden registrierten nicht einmal, daß ihr Widersacher inzwischen seine Waffe aus der Hand gelegt hatte und ihnen den Rücken zukehrte. Er machte sich mit flinken Fingern an einer Konsole zu schaffen, die ansonsten in einem kleinen Wandschrank versenkt lag. Mike Rosefields Gehirn arbeitete auf Hochtouren, denn er wußte, daß ihm nur noch 90 Sekunden blieben, wollte er diese Falle noch lebend verlassen. Zum Zeitpunkt X würden mit der dann erfolgenden Explosion auch alle technischen Einrichtungen dieses Hauses zerstört werden, und das hieß, daß die Neutralisierung der Impulsortung seiner Verfolger wenige Sekunden später aufgehoben werden würde.

Und auf diesen Moment kam es an. Sollte er dem Inferno entkommen und als derjenige identifiziert werden können, der er war, würde ihn auch der hochenergetische Schutzschirm vor dem punktuellen Wirkungsfeuer der draußen postierten Soldaten nicht bewahren können. Ein kurzer Blick auf die Sekundenanzeige verriet dem Headhunter, daß ihm nun noch 45 Sekunden blieben. Er nahm die letzten Eingaben vor, steckte sich einen kleinen Impulsgeber ins Hemd und rannte ins Schlafzimmer. Rasch riß er ein Laken auseinander, stürmte mit dem Tuch in der Hand zurück in den Flur, raste auf das nächstbeste Fenster zu und stürzte sich im Flug durch die Scheibe, wobei er das Laken schützend vor die nach vorn gerichteten Ellbogen hielt.


*


"Verdammte Scheiße, was ist denn das?" Einer der Schützen rechts neben Sergeant Miller, es mochte Cooley sein oder der alte Tscheche, sprang in heller Panik auf.

"Sind die denn völlig verrückt geworden?" schrie er. "Ej, Ronny, ruf' die mal an", verlangte er dann, "die müssen doch wissen, daß wir noch hier sind! Die sollen das verdammte Ding da drüben abstellen!"

Der Sergeant rührte sich nicht, er hatte noch immer den schreienden Mann im Visier, der schräg vor ihm über die Straße lief und nun ein großes, weißes Tuch hin und her schwenkte.

"Du weißt genau, daß wir hier nicht mehr lebend rauskommen", murmelte er, ohne den Blick zu wenden. 'Ich brauch' bloß abzudrücken, dann ist dieser Mann tot', dachte der Soldat, der seinem eigenen Schicksal völlig teilnahmslos gegenüberzustehen schien. 'Andererseits, was spielt das jetzt noch für eine Rolle ...'

"Spinnst du!" brüllte der Tscheche ihn an, wie Miller nun eindeutig am unverwechselbaren Slang des altgedienten Kämpfers erkannte. "So tu doch was!!"

Und Sergeant Miller tat, was ihm in seiner langen Laufbahn längst in Fleisch und Blut übergegangen war. Der Finger am Abzug krümmte sich fast von allein. Da erweckte ein leises Piepen dicht neben dem Kopf seine Aufmerksamkeit. Der Impuls-Dekoder meldete sich einsatzbereit, er war noch immer auf den Bungalow plus 30 Meter im Radius geeicht und gab an, daß sich ein menschliches Lebewesen innerhalb dieses Bereichs aufhielt - laut Individualimpuls-Analyse der VIP!

'Das muß dieser Verrückte sein', dachte der Sergeant noch, bevor von einer Sekunde zur nächsten der Bungalow und die gesamte Umgebung wie durch ein plötzliches und überdimensionales Blitzlicht in ein gleißendes Licht getaucht wurde. Miller starb wie all die anderen Scharfschützen in Nr. 15, noch bevor der halbgekrümmte Finger den Abzug voll durchgedrückt hatte, und dachte die Frage, ob er nun wirklich schießen sollte oder nicht, nicht mehr zu Ende.


*


Mike Rosefield federte den Sprung so gut es ging ab, doch es blieb nicht aus, daß er sich bei der Landung an den vielen Glassplittern und Scherben zahllose Schnittverletzungen zuzog. Nichts anderes hatte der frühere Kopfgeldjäger erwartet; er hatte sich ein peripher wirkendes Narkotikum gespritzt, um in den nächsten Minuten nicht im mindestens beeinträchtigt zu sein. Noch war er diesem Inferno, das in wenigen Sekunden seine volle Gewalt entfachen würde, nicht entkommen.

Die Explosion breitete sich mit kaum meßbarer Geschwindigkeit aus, blieb in ihren verheerenden Auswirkungen allerdings auf einen Wirkungsradius von 30 Metern begrenzt. Weitere Häuser in der Nachbarschaft stürzten ein, als wären sie aus Pappe gewesen. Menschen starben völlig ahnungslos, wurden im Schlaf überrascht. Auch die wenigen Autofahrer, die sich zu dieser frühen Stunde in die Kerkeland-Straat verirrt hatten, wurden von der Explosion erfaßt.

Zu Tarnungszwecken hatte man, und das war bei derartigen Operationen üblich, darauf verzichtet, die Straße abzusperren oder die Bewohner der umliegenden Häuser zu evakuieren. Die Schreckensbilanz sollte am Ende dieser Aktion 37 Tote und 78 zum Teil schwerverletzte Menschen umfassen, darunter nicht wenige Militärangehörige, die hier bei ihrem letzten Einsatz im Dienste der allgemeinen Sicherheit ihr Leben ließen. War auch Mike Rosefield durch die verheerende Explosion ums Leben gekommen, nachdem ihm zunächst, als Koordinator getarnt, die Flucht aus dem Bungalow geglückt war?


*


Halb benommen stand Jason O'Brian an die Wand des Kombis gelehnt, in seinem Kopf dröhnte ein halbes Orchester. Noch konnte er keinen klaren Gedanken fassen; er war sich nicht einmal ganz sicher, ob er noch am Leben war oder längst in einem postmortalem Zustand, der sich wie ein Film abspulte, in dem er bestenfalls eine Nebenrolle hatte.

"Sergeant! Sergeant O'Brian!!" Die wütende Stimme seines Vorgesetzten erreichte sein Ohr und durchdrang mühelos den bodenlosen Nebel seiner Gedanken.

"Na, wird's bald", donnerte Major O'Connor weiter, der wieder einmal seine 'wilden fünf Minuten' hatte. "Oder wollen Sie sich vielleicht krankmelden?"

Sergeant O'Brian stützte sich mit beiden Händen am Wagen ab und nahm Haltung an.

"Ja, Sir?" brachte er mühsam hervor.

"Checken Sie den Explosionsherd plus 50 Meter Radius auf Lebensimpulse. Ich will vor allem wissen, ob der VIP noch am Leben ist."

"Wird erledigt, Sir", antworte der Sergeant, und seine Stimme klang trotz der unvermindert dröhnenden Kopfschmerzen fast so fest wie immer. Und tatsächlich machte sich Jason O'Brian sofort ans Werk. Anhand der Aufzeichnungen, die ihm in der kleinen Sendezentrale im Innern des geräumigen Kombis zur Verfügung standen, konnte er den ungefähren Ablauf der Geschehnisse schnell rekonstruieren. Die inzwischen eingesetzten Rettungsmaßnahmen interessierten ihn dabei nur am Rande, darum brauchte er sich nicht zu kümmern.

Genau um 08.15 Uhr, 30 Sekunden war die Explosion erfolgt. 15 Sekunden später, so jedenfalls sagten es die Instrumente, hatte die Individualimpuls-Ortung ihre Arbeit wieder aufgenommen, womit feststand, daß ihr vorheriger Ausfall auf einen externen Faktor zurückzuführen war. Doch diese Frage mußte, wie Sergeant O'Brian sehr wohl wußte, zur Zeit zurückgestellt werden. Er modifizierte die Suchanzeige auf den VIP, ließ sich die Aufzeichnungen ab dem Zeitpunkt X auf dem Monitor anzeigen und pfiff dann leise durch die Zähne ...

"Major O'Connor, Major O'Connor", rief er, ohne sich nach seinem Vorgesetzten umzusehen. "Das müssen Sie sich mal ansehen, der VIP ..."

"Ist das vielleicht 'ne Meldung?" fuhr der Offizier Sergeant O'Brian an, während er näherkam. Doch dann, kaum hatte er einen Blick auf den Monitor geworfen, blieben ihm die Worte im Halse stecken.

"Das ist doch ...", murmelte er ungläubig. "Wie ist denn das bloß möglich?" flüsterte er, nachdem er zum zweiten Mal die Angaben überprüft hatte, die ihn vor ein unlösbares Rätsel stellten. Die Fakten schienen einfach zu sein: Unmittelbar nach der Reaktivierung der Individualimpuls-Ortung hatte der in Nr. 15 positionierte Dekoder die Impulse des VIP registriert, unmißverständlich und zweifelsfrei. Und das hieß im Klartext, daß die 'mit allen Mitteln' zu schützende Person die gewaltige Explosion überlebt haben mußte, sich aber, wie der Impulsortung weiter zu entnehmen war, noch in unmittelbarer Nähe des Bungalows befunden hatte. Dann aber, und das bereitete dem Major die größten Sorgen, brachen die Impulse erneut ab.

'Das läßt sich kaum anders deuten', überlegte der Major, 'als wäre der VIP durch die Sekundärwirkungen, die verheerende Explosionswelle etwa oder die Feuerbrunst, in unmittelbarer Folge der eigentlichen Explosion doch noch ums Leben gekommen.' Das wäre tragisch und mit womöglich unangenehmen Konsequenzen für ihn, den Major als Befehlshabenden vor Ort, gewesen, doch das eigentlich Rätselhafte und Unerklärliche bestand darin, daß die Individualimpulse des VIP zwei Minuten, nachdem sie abgebrochen waren, erneut auftauchten, und zwar weit außerhalb des gefährdeten Bereichs.

"Wenn das stimmt, was die Geräte anzeigen", sagte der Major ungewöhnlich freundlich, "könnte der VIP noch am Leben sein, wie auch immer der zwischenzeitliche Totalausfall seiner Impulse zu erklären sein mochte." Erwartungsvoll sah Sergeant O'Brian seinen Vorgesetzten an, hatten doch die Ereignisse ein unerwartet günstige Wendung genommen. Beide setzten sich, als hätten sie denselben Gedanken zur selben Zeit, in Bewegung. Und tatsächlich liefen sie, ohne daß es weiterer Worte bedurft hätte, im Laufschritt auf den inzwischen von den Rettungs- und Sicherheitsdiensten abgesperrten Unfallbereich zu. Sergeant O'Brian hatte einen mobilen Impulsdekoder in der Hand, der sie binnen kurzem zu dem VIP führen mußte, dessen Leben ungeachtet aller Ungereimheiten nach wie vor unter allen Umständen zu schützen war.


*


Mike Rosefield lief und lief und lief. Er wußte, daß sein Leben nur noch an einem seidenen Faden hing. In doppelter Hinsicht konnte ihn sein Schicksal in den nächsten Sekunden oder Minuten ereilen. Da waren zunächst einmal die Scharfschützen, die ihn im Fadenkreuz haben mußten, wenn sie nicht ihr Heil in der Flucht gesucht hatten.

"Hilfe, Hilfe!" schrie der frühere Headhunter noch einmal, ohne im Laufen innezuhalten. Er spekulierte darauf, daß dies, gepaart mit dem an sich idiotischen Schwenken eines weißen Lakens, so in etwa dem Verhalten entsprechen würde, das der Koordinator in einer solchen Extremsituation an den Tag gelegt hätte. Der Erfolg gab ihm recht, noch hatte keiner auf ihn geschossen. Doch viel war damit nicht gewonnen, denn in genau 30 Sekunden, wie Mike mit einem Seitenblick auf seinen Chronometer feststellte, würde die Druckwelle der Explosion ihn erfassen und auf der Stelle töten.

'Bis dahin', so plante Mike Rosefield bar jeder Emotion, 'muß ich den Schutzschirm aktiviert haben, sonst komm' ich hier nicht mehr raus.' Der Headhunter hätte seinen hochenergetischen Schutzschirm, der auf einer technologischen Weiterentwicklung beruhte, die den regulären Sicherheitskräften nicht zur Verfügung stand, schon längst einschalten können, doch er wollte in dieser Situation als Koordinator identifiziert werden. Der Schutzschirm würde dessen Individualimpulse, die er mittels seines Impulsgebers bei gleichzeitiger Unterdrückung seiner eigenen imitieren konnte, erneut zum Erlöschen bringen.

Die Feuerbrunst, die bis in den Morgenhimmel loderte und die Straße verdunkelte, raste mit beängstigender Geschwindigkeit auf ihn zu. Es war so heiß, daß die Luft beim Atmen in den Lungen brannte, der Schweiß lief ihm in Sturzbächen. Mike Rosefield blieb stehen. Nun wurde es wirklich höchste Zeit, den Schutzschirm zu aktivieren.

"Na, nun wollen wir mal sehen, ob das Zeug hält, was es verspricht", murmelte er, als befände er sich auf dem Testgelände der streng geheimen hochenergetischen Militärforschung. Einer solchen Extrembelastung hatte er den Schutzschirm bislang nicht ausgesetzt. Ein Knopfdruck genügte, und schon war Mike Rosefield der Normalortung entzogen. Der Schutzschirm hielt! Mike konnte sich in einer hochenergetischen Enklave ungehindert bewegen, sogar die Luft war atembar. Und so setzte er seinen Dauerlauf fort, um den absolut tödlichen Bereich so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.


*


"Da ist er! Da vorne, das muß er sein!" Sergeant O'Brian zupfte dem Major in der Menschenmenge am Ärmel. Polizisten und Soldaten, Rettungssanitäter und Feuerwehrleute vervollkommneten das Tohuwabohu, das sich in unmittelbarer Umgebung der Katastrophe gebildet hatte. Der Sergeant wies seinem Vorgesetzten die Richtung. Aufgrund der dichtgedrängten Menge war allerdings nicht so ohne weiteres auszumachen, welcher der umherhastenden Menschen denn nun der VIP sein sollte.

Major O'Connor strebte unaufhaltsam vorwärts. Laut Anzeige des Impuls-Dekoders mußte sich der VIP in ungefähr 20 Metern Entfernung befinden.

"Das ist doch zu blöd", bemerkte er im Weitergehen. "Wir können ja schließlich nicht fragen: Wer ist denn hier der VIP-0!"

"Wenn wir dicht genug dran sind", warf Sergeant O'Brian ein, "läßt sich das eindeutig ablesen. Ich glaube, es ist der Mann, der da vorn am Sanitätsstand steht."

"Das ist mir zu ungenau", kritisierte der Major, "da sind viel zu viele Leute, als daß die Anzeige eindeutig sein könnte."

"Gibt's denn wirklich kein Foto von dem VIP? Wie sollen wir ihn denn schützen, wenn wir nicht wissen, wie er aussieht?" Major O'Connor schluckte die barsche Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, herunter. 'Auf welcher Militärakademie ist dieser Kerl bloß gewesen, wie kann er solche dummen Fragen stellen?' Doch was tat das jetzt zur Sache; Hauptsache, es gelang ihnen so schnell wie möglich, den VIP zu identifizieren und endgültig in Sicherheit zu bringen.

"Wir halten ihm den Dekoder vor die Nase", versuchte der Major einen Scherz. "Dann werden wir schon wissen, ob es der Richtige ist."

Der Offizier und seine 'rechte Hand' hatten sich mittlerweile bis auf fünf Meter an den Mann herangearbeitet, den sie für den VIP hielten. Er war, vor allem an Händen und Armen, von Schnittwunden übersät, die von einem emsigen Sanitäter schnell, aber sorgfältig versorgt wurden. Offensichtlich hatte der Mann Schmerzmittel bekommen, er machte einen verlangsamten und geistesabwesenden Eindruck. Er saß mit gebeugten Kopf auf einem kleinen Klappschemel, den ihm der Sanitäter inmitten des ganzen Trubels wohl untergeschoben hatte.

Kurzentschlossen trat der Major vor, um sich schnellstens Klarheit zu verschaffen. Er zückte kurz seinen Ausweis, woraufhin der Sanitäter salutierte und ihm den Platz freigab, während er die letzten Wunden seines Patienten versorgte.

"Wissen Sie, wer das ist?" fragte der Major den Sanitäter.

"Nein, Sir", antwortete dieser. "Er wurde vom Rettungsdienst ganz da vorn aufgegriffen" - der Sanitäter deutete in Richtung des Explosionsherdes - "und war halb bewußtlos. Wir wissen nicht einmal, wo er herkommt. Die Rettungssanis meinten, er wäre aus den Flammen gelaufen gekommen, aber das kann ja nicht sein. Sie kennen ja diese Typen. Was die für Geschichten erzählen, das geht auf keine Kuhhaut ..."

"Soll das heißen, der Mann wurde noch nicht identifiziert?" fragte Major O'Connor recht scharf, um den Redefluß des Mannes zu unterbrechen.

"Sehen Sie denn nicht, was hier los ist? Das wäre doch wohl die Aufgabe Ihrer Leute gewesen, oder etwa nicht?" entgegnete der Sanitäter, der sich nun merklich unwohl fühlte. "Mein Job ist die Erstversorgung der Verletzten, und genau das habe ich getan", suchte er sich unter dem bohrenden Blick des Offiziers zu rechtfertigen.

Ohne den Sanitäter eines weiteren Wortes für würdig zu erachten, drehte sich der Major zu Sergeant O'Brian um.

"Nun?" fragte er leise.

"Er ist es. Ohne jeden Zweifel", gab O'Brian ebenso leise zurück. "Sehen Sie selbst." Und er drückte dem Major seinen Impuls-Dekoder in die Hand. O'Connor fiel ein Stein vom Herzen; er hatte Mühe, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Der VIP stand vor ihm und befand sich offensichtlich nicht in Lebensgefahr, wenn er auch nicht den Eindruck machte, als habe er ein Wort von dem verstanden, was um ihn herum gesprochen wurde.


*


'Das läuft ja wie am Schnürchen', dachte der Headhunter unterdessen, der in aller Seelenruhe die Behandlung der Schnittverletzungen über sich ergehen ließ. Voller Inbrunst mimte er den Halbbewußtlosen.

Eine fast unheimliche Glückssträhne hatte ihn dieses Inferno überleben lassen. Sicherlich, der hochenergetische Schutzschirm, mit dessen Hilfe er die Gefahrenzone verlassen konnte, hatte ein Gutteil dazu beigetragen. Doch ebenso wichtig war der Wechsel der Identitäten, denn 'Mike Rosefield' hätte hier keine Chance mehr gehabt. Mit seinen eigenen Individualimpulsen wäre er dem konzentrierten Feuer der Soldaten früher oder später zum Opfer gefallen. Da hätte auch der Schutzschirm nicht geholfen, in dem dichten Menschengedränge hätte er damit Aufsehen erregt wie ein bunter Hund.

Der frühere Berufskiller hatte alles auf eine Karte gesetzt. Jeder Mensch, der den Koordinator kannte, würde ihn sofort enttarnen können, doch die Impulsortung identifizierte ihn ausschließlich anhand der von ihm manipulierten Impulse. Beinahe hätte der Sanitäter bei seinen Bemühungen das kleine Gerät, das in seiner Hemdtasche steckte, in die Hand genommen. Doch Mike Rosefield reagierte mit dem sicheren Instinkt, der ihn schon durch wesentlich heiklere Situationen geleitet hatte. Mit einer beiläufigen Handbewegung stieß er den Sanitäter an und stöhnte dabei so heftig, als würde eine Schmerzattacke ihm das Bewußtsein endgültig rauben. Und schon war der Sanitäter wieder in seinem Element, spritzte ihm noch ein Betäubungsmittel und hatte das kleine Gerät schon wieder vergessen.

Und dann hatte es nicht mehr lange gedauert, bis die beiden Figuren aufgetaucht waren, auf die es nun ankam. Sie gaben sich so betont unauffällig, daß Mike sofort wußte, daß sie nach ihm bzw. dem Koordinator suchten. Aus ihrer Unentschlossenheit konnte er schlußfolgern, daß sie sich keineswegs sicher waren, in ihm den Gesuchten vor sich zu haben. Hätten sie den Koordinator gekannt, sie hätten wohl kaum gezögert, ihm als offensichtlichen Falschspieler den Garaus zu machen.

'Kaum zu glauben, die haben keine Ahnung, wer ich wirklich bin', sinnierte Mike Rosefield, während er mit halben Ohr der Unterhaltung zwischen dem Sanitäter und den beiden Militärs lauschte. Sein Verstand war unermüdlich aktiv und ging die Möglichkeiten durch, die sich aus dieser im Grunde unerwarteten Situation für ihn ergaben. Bislang hatte er noch keinen Gedanken an die Zukunft verschwendet. Ja, mehr noch, diesen Begriff hatte er längst aus seinem Vokabular gestrichen. Und nun sah es ganz so aus, als wäre es für ihn ein leichtes, voll und ganz in die Rolle des Koordinators zu schlüpfen ...


*


"Okay, ich übernehme den Mann", sagte Major O'Connor zu dem Sanitäter. Sein Tonfall machte deutlich, daß der Offizier in diesem Punkt keinen Widerspruch dulden würde. Dennoch wagte Patrick Sorayer einen Einwand.

"Mit Verlaub, Sir" - und dieses 'Sir' war so überbetont, daß die Respektlosigkeit des Sanitäters damit zum Ausdruck kam, "aber ich kann das nicht gutheißen. Der Mann ist nicht transportfähig."

"Wenn ich sage, 'ich übernehme den Mann'", zischte der Offizier, "dann übernehme ich den Mann. Ist das klar?"

Und wie um die drohenden Worte seines Vorgesetzten zu unterstützen, trat Sergeant O'Brian vor, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte. Und Patrick Sorayer verstand. Der Sanitäter war im Umgang mit den Repräsentanten staatlicher Gewalt erfahren genug um zu wissen, wann Zivilisten wie er die Segel zu streichen hatten. Und dies war ein solcher Moment, der Sanitäter warf seinem Patienten noch einen letzten Blick zu. Er konnte nun nichts mehr für ihn tun. Wortlos packte er seine Tasche, stand auf, machte auf dem Absatz kehrt und war nach wenigen Minuten im allgemeinen Durcheinander verschwunden.

"So, nun sind wir ungestört", wandte sich der Major an den VIP. "Ich bin Major O'Connor, diensthabender Befehlshaber. Haben Sie bestimmte Befehle, Sir? Können wir Ihnen behilflich sein? Wir haben einen Hubschrauber bereitstehen, der Sie sofort ins Hauptquartier bringen kann. Hier können wir für Ihre Sicherheit nicht hundertprozentig garantieren."

'Na, wunderbar', dachte der ehemalige Headhunter. Doch dann besann er sich auf die Rolle, die er nun zu spielen hatte. Der 'VIP' hob also den Kopf und sah den Major mit halbgeschlossenen Augen an.

"Ich bin mit meinen Kräften bald am Ende", flüsterte er in weinerlichem Ton. "Wenn Sie wüßten, was ich hinter mir habe ..." Es gelang Mike Rosefield sogar, eine drohende Bewußtlosigkeit vorzutäuschen. Der Major sprang hinzu und fing ihn auf, pfiff dann vier Militärsanitäter herbei, die ihn auf eine Trage luden und im Laufschritt dem Hubschrauber zueilten, der in gut fünfzig Meter Entfernung auf dem Van-Heelen-Platz in Bereitschaft stand. Der Major und sein Adjutant stiegen mit ein, sie würden den VIP keine Sekunde mehr aus den Augen lassen; nicht, bevor er nicht das Brüsseler Sicherheitshauptamt erreicht hatte.


*


Mike Rosefield schloß die Augen, nachdem er in den Hubschrauber verfrachtet und auf eine Pritsche gebettet worden war. Einerseits war er zu Tode erschöpft, die Strapazen der letzten Stunden hatten Spuren hinterlassen. Doch andererseits konnte er nicht abschalten, sein Gefahrenbewußtsein ließ das einfach nicht zu. Und er befand sich in Gefahr, in tödlicher Gefahr, denn wenn seine kleine Maskerade durch irgendeinen dummen Umstand aufflog, würde sich die an Fürsorglichkeit grenzende Anteilnahme der ihn umgebenden Männer in tödliche Kompromißlosigkeit verwandeln, und zwar übergangslos.

'Was soll's', dachte Mike noch, bevor er hinüberdämmerte. Und ebenfalls übergangslos umfing ihn eine Vision, als habe sie nur darauf gewartet, ihn endlich zu fassen zu kriegen. Eine überlebensgroße Fratze tauchte vor seinem inneren Auge auf, ein solches Wesen hatte er noch niemals gesehen. Er suchte vergeblich nach Vergleichsmöglichkeiten; es war ebensowenig menschlich, wie es irgendeiner anderen ihm bekannten Art zuzuordnen gewesen wäre.

"Was willst du?" fragte Mike Rosefield tonlos, denn er konnte gar nicht anders, als das Erscheinen dieses undefinierbaren Wesens direkt auf sich zu beziehen.

"Ich will dich holen", grinste das unsagbar Fremde, und es war ein Grinsen, das sogar dem ehemaligen Headhunter das Blut in den Adern gefrieren ließ.

(Ende des 12. Teils)


*


Die Ereignisse im belgischen Gent haben eine recht unerwartete Wendung genommen. Der Ex-Headhunter hat zwar die 'Rache seines Lebens' vollziehen können, doch Genugtuung haben ihm die Qualen und der Tod des Koordinators nicht verschafft. Nun steht er unvermittelt vor der wohl einmaligen Möglichkeit, die Identität seines Widersachers zu übernehmen. Doch wozu? Was wird Mike Rosefield als nächstes tun?

Lesen Sie weiter in der nächsten und letzten Headhunter-Folge:
Teil 13: Jenseits von Gut und Böse


Erstveröffentlichung am 13. Juni 1997

19. Januar 2007