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PSYCHO/015: ... und tief ist sein Schein (15) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Viola hatte sich längst an ihren neuen Arbeitsplatz gewöhnt. Seit Dr. Kalwin darauf bedacht war, ihr gegenüber stets eine gewisse Distanz zu wahren, brauchte sie ihm nicht mehr aus dem Weg zu gehen. Es ergab sich ohne ihr besonderes Zutun, daß sie nur selten unter vier Augen zusammentrafen.

An dem Abend nachdem er in dem Glauben ihre Wohnung verlassen hatte, gerade noch den listenreich ausgelegten Fallstricken einer heiratswütigen Angestellten entronnen zu sein, hatten Viola und ihre Mutter in fröhlichem Einvernehmen eine Flasche Wein geleert. Sie mußten Tränen lachen bei der Vorstellung, daß der kühne Jäger sich plötzlich als Beute angesehen und Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte. *

Heute war Viola gerade seit zehn Minuten im Labor, um routinemäßig von Merle ein weiteres EEG aufzuzeichnen, wie das wissenschaftliche Forschungsprojekt es verlangte. Im Rahmen dieser Arbeit hatte sie nun schon recht häufig mit verschiedenen Patienten der Station E zu tun gehabt, doch nur mit Merle und Preacher war sie bisher ins Gespräch gekommen. Alle anderen ließen die Prozedur in schweigender Abwehr über sich ergehen. Besonders über Preacher hatte Viola in letzter Zeit viel nachgedacht. Irgend etwas zog sie wie magisch zu ihm hin, doch so viel sie auch nachgrübelte, sie konnte nicht herausfinden, was es war.

Nun saß Merle wieder vor ihr, mit den üblichen Lederriemen an den Stuhl gefesselt und kaum weniger fremd und unnahbar als bei ihrer ersten Begegnung. Wohl hatte er ihr des öfteren Dinge erzählt, die sie von sich aus niemals zur Sprache gebracht hätte, dennoch war zwischen ihnen nie auch nur die Ahnung von Nähe oder Vertrautheit aufgekommen, wie sie sie bei Preacher vom ersten Tag an empfand. Immer wieder ließ Merle sie spüren, daß das finstere Universum, in dem er lebte, ihrer Welt allenfalls feindselig gegenüberstand, sofern überhaupt irgendeine Verbindung herzustellen war.

"Wie kommt unser gemeinsamer Freund Dr. Kalwin bei Ihnen voran?" fragte Merle mit anzüglichem Grinsen, während Viola die Elektroden an seinem Kopf befestigte. "Haben Sie immer noch nicht vor seiner bezwingend maskulinen Ausstrahlung kapituliert?"

Anstatt sich über Merles provozierende Art zu ärgern, lachte Viola diesmal frei heraus. "Ich fürchte, ich kann mit der schutzverheißenden Autorität eines Dr. Kalwin ebensowenig anfangen wie mit Ihrer unerschütterlichen Grabeskälte." Ihre Offenheit schien Merle nicht sonderlich zu beeindrucken. Er musterte sie nach wie vor mit dem kalten Blick eines Forschers, der an einer unbekannten Tierart Verhaltensstudien vornimmt. Dabei befand er sich doch in ihrem Labor, und sie war es, die an ihm die Messungen vornahm.

"Dr. Kalwins Interesse an meiner Person ist stark abgekühlt, falls das Ihrer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit tatsächlich entgangen sein sollte", konnte sie sich nicht verkneifen zu bemerken.

"Tatsächlich ist mir aufgefallen, daß er aus irgendeinem Grund Ihre Nähe meidet," räumte Merle gnädig ein. "Aber sein Interesse ist nach wie vor vorhanden, wenn auch nicht ganz so offensichtlich", stellte er mit einer Selbstverständlichkeit fest, als würde er den ganzen Tag nichts anderes tun, als sie und Dr. Kalwin zu beobachten. "Ich dachte, Sie hätten wegen der Sache mit Preacher eine Meinungsverschiedenheit gehabt."

"Welcher Sache?" fragte Viola alarmiert, aber Merle schien sich über ihre Besorgnis nicht zu wundern.

"Na, wegen der Elektroschocks", erwiderte er lapidar.

Violas Mund war plötzlich trocken und in ihrer Magengrube bildete sich ein harter Klumpen.

"Ich dachte immer, so etwas spricht sich beim Personal herum", zuckte Merle verständnislos die Schultern.

"Nein", entgegnete Viola bestürzt. "Niemand hat mir gesagt, daß in dieser modernen Klinik überhaupt noch so etwas durchgeführt wird."

"Zum Wohle seiner Patienten scheut Dr. Kalwin auch Methoden nicht, die, sagen wir einmal, zur Zeit nicht sonderlich populär sind. Er ist eben der Ansicht, daß es sich auf Station E günstig auf die allgemeine Stimmung auswirkt, wenn er einigen Gehirnen von Zeit zu Zeit ein paar Stromstöße verabreicht", bemerkte Merle gleichmütig.

"Sie scheinen diese perverse Einstellung erstaunlicherweise mit ihrem Erzfeind zu teilen." Viola war zu wütend, um noch ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

"Diese Einstellung ist keineswegs pervers, sie ist vollkommen menschlich und im Grunde teile ich sie tatsächlich", entgegnete ihr Merle ungerührt. "Zur Perversion hätte ein Dr. Kalwin weder die Größe noch die Phantasie. Er versteht sich besser auf Ignoranz und Selbstüberschätzung."

"Ich kann mir vorstellen, daß Sie in einigen Bereichen durchaus noch voneinander lernen könnten", kommentierte Viola trocken und gab vor, die Kurven zu verfolgen, die die Schreiber auf das Papier kritzelten. "Allerdings wüßte ich gern, weshalb Sie als Patient für die Anwendung von Elektroschocks eintreten."

"Nun, es kommt selbstverständlich ganz auf eine sachkundige Handhabung an. Bei ausreichender Stromstärke müssen sich Elektroschocks nicht von den eisigen Wasserbädern, dem Einwickeln in feuchte Bettlaken und ähnlichen Verfahren unterscheiden, die zu Zeiten angewendet wurden, als man noch von Irrenanstalten sprach. Sie sind allesamt überaus schmerzhaft für den Betroffenen, und das ist auch ihr einziger Sinn und Zweck."

"Und was verstehen Sie sonst noch unter einer sachkundigen Handhabung?" Viola versuchte den Gedanken daran zu verdrängen, wie Dr. Kalwin mit unbeteiligter Miene einen furchtbaren Stromschlag durch Preachers schmächtigen Körper jagte.

"Die zentrale Frage ist doch, wem man eine solche Behandlung verabreicht. Und eben in diesem Punkt hat Dr. Kalwin sich als Dilettant erwiesen", erklärte Merle. "Er hält sich für klug, aber er hat nichts begriffen."

"Und was gäbe es da Ihrer Ansicht nach zu begreifen?" Obwohl Viola wieder eine von Merles teuflischen Thesen hinter seinen Worten vermutete, wollte sie es diesmal genau wissen. Vielleicht, weil es diesmal mit Preacher zu tun hatte.

"Es gibt da ein uraltes Prinzip", begann Merle mit seiner flachen, monotonen Stimme zu erläutern, "das weder die Psychologie noch irgendwelche anderen oberflächlichen Erklärungsmodelle erfassen können."

Er hielt kurz inne, als müßte er ihr Zeit lassen, sich darauf vorzubereiten, was er zu sagen hatte. "Dort, wo viele Menschen zusammenleben, wächst nach kurzer Zeit der Haß über das erträgliche Maß hinaus. Viele Herrscher vergangener Zivilisationen haben dieser Tatsache Rechnung getragen und stets einige ihrer Untertanen gezwungen, mit ihren Körpern einen Teil des Hasses, der sonst irgendwann sie selbst treffen würde, gewissermaßen stellvertretend physische zu verarbeiten. Sie haben unter mehr oder weniger guten Vorwänden Leute bestimmt, die vor aller Augen unsägliche Qualen erleiden mußten, um den anderen für eine Weile Erleichterung zu verschaffen. Sie wurden gesteinigt, gerädert, gepfählt, gevierteilt, das Gedärm wurde ihnen mit glühenden Zangen herausgezogen", zählte Merle mit zunehmendem Engagement auf. "Die meisten wollen nicht wissen, daß dasselbe Prinzip im Grunde auch heute noch gilt. Doch die Regierenden wissen das. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch bei uns die ersten Folterungen live im Fernsehen gesendet werden."

"Und was hat das alles mit Dr. Kalwin und seinen Elektroschocks zu tun?" wollte Viola verhindern, daß er sich weiter in der Schilderung seiner grausamen Theorien erging.

"Ein Herrscher, der nicht für die Abarbeitung des Hasses in Form von Schmerz zu sorgen weiß, wird bald selbst vom Haß seiner Untertanen vernichtet." Er sah Viola bedeutungsvoll an, doch als sie nicht darauf reagierte, bemerkte er mit einem zynischen Lächeln: "Ich dachte, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Dr. Kalwin sich auf Station E als uneingeschränkter Herrscher begreift. Um dafür zu sorgen, daß er alles im Griff behält, hat er nach alter Tradition ein Mittel gewählt, mit dem er die in dieser Enge ständig gärende Feindseligkeit auf Kosten eines Einzelnen entladen kann: den Elektroschock."

Viola konnte nicht leugnen, daß ihr Merles Begründung in gewisser Weise einleuchtete, auch wenn sie ihr zutiefst zuwider war. "Wenn Dr. Kalwin sich so wunderbar getreu Ihres Prinzips verhält, was haben Sie dann eigentlich gegen ihn?" verlangte sie barsch zu wissen.

"Nun, unser genialer Dr. Kalwin hat das Prinzip, das er anzuwenden versucht, bloß zur Hälfte begriffen. Und fast immer, wenn jemand etwas nur zur Hälfte begreift, sind die Folgen fatal."

"Was für Folgen?" hakte Viola nach, als Merle von sich aus nicht gleich weitersprach. Sie wußte, daß sie nicht befugt war, mit den Patienten derartige Gespräche zu führen, und daß sie für eventuelle Folgen nicht geradestehen konnte. Doch Merles Gedanken gerade an diesem Punkt noch ein Stück weit zu folgen, war ihr einigen Ärger wert.

"Wenn es darum geht, dem kreatürlichen Haß ein Ventil zu verschaffen, einen Ofen zu bauen, in dem er verbrannt werden kann, dann ist es von wesentlicher Bedeutung, zu diesem Zweck immer einen der Schwächsten heranzuziehen. Jemanden, an dem jeder leicht und furchtlos seinen Stiefel abstreifen kann. Doch um diesen wesentlichen Aspekt zu erkennen, ist Dr. Kalwin zu beschränkt. Statt irgendeinen hilflos brabbelnden Idioten an seine Maschine anzuschließen und unter Strom zu setzen, hat er sich jemanden vorgenommen, den nicht einmal ich herausfordern würde."

Merle sah sie mit seinen schwarzen Augen eindringlich an, in denen jetzt ein finsteres Feuer glomm. Viola konnte sich nicht vorstellen, daß er von Preacher sprach, dessen strahlendes Lächeln sie mehr wärmen konnte als die Sonne im August. Wie sollte seine Seele noch schwärzer sein als die von Merle?

"Im Gegensatz zu mir hat Preacher es gar nicht nötig, irgend etwas gegen Dr. Kalwin zu unternehmen", beantwortete Merle ihre unausgesprochene Frage. "Preacher nimmt den Schmerz nicht an, der Schmerz erreicht ihn nicht, und das ist vollauf genug. Denn weil er von Preacher nicht angenommen wird, kehrt der Schmerz zu Dr. Kalwin zurück. Vielleicht heute schon, vielleicht erst in ein paar Wochen. Aber mit seiner vollen Gewalt."

"Dann brauchen Sie ihn wenigstens nicht mehr umzubringen", versuchte Viola, durch Kaltschnäuzigkeit die Beklemmungen zu vertreiben, die sich ihrer bemächtigt hatten.

"Oh doch", widersprach ihr Merle, "denn so leicht stirbt ein Dr. Kalwin nicht. Er wird das durchstehen. Und dann bin ich dran." Als wollte er abschließend die Hände zum Gebet falten, legte er wieder die Fingerspitzen seiner dürren Knochenhände gegeneinander. Viola war froh, daß sie nur noch rasch die Elektroden entfernen und den wartenden Pflegern Bescheid geben mußte, daß sie Merle auf die Station zurückbrachten. Obwohl sie nicht mehr als 30 Minuten in Merles Gegenwart zugebracht hatte, fühlte sie sich vollkommen erschöpft. Was sie erfahren hatte, glich einem Alptraum und erschien gleichzeitig so ungemein plausibel. Ob es etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte, würde sich bald erweisen ...

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 9. Juli 1997

29. Januar 2007