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PSYCHO/020: ... und tief ist sein Schein (20) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Der schmerzhafte Ausschlag war auch durch ein entspanntes Wochenende mit viel Schlaf, guter Musik und ein paar erlesenen Gaumenfreuden nicht zurückgegangen. Im Gegenteil, die roten Flecken auf Dr. Kalwins Wange schienen sich noch vermehrt zu haben. So blieb ihm nichts anderes übrig, als Dr. Egbrecht, einen Dermatologen, den er noch aus Studienzeiten kannte, zu Rate zu ziehen. Selbstverständlich hatte er als Mediziner bezüglich der Symptome seine Vermutungen, doch in diesem Fall wünschte er sich geradezu, von seinem Kollegen eines Besseren belehrt zu werden. Er hoffte inständig, daß es sich um eine nervöse Hautreaktion infolge von Überarbeitung handelte.

"Schön, daß du dich mal bei mir blicken läßt, Alex", begrüßte ihn Dr. Egbrecht ehrlich erfreut, nachdem Dr. Kalwin in der Mittagszeit überraschend in dessen großzügig ausgestatteter Praxis aufgetaucht war.

"Der Grund für mein Kommen ist wohl weniger schön, aber ich freue mich, daß es meinem alten Mitstreiter offenbar recht gut geht." Dr. Kalwin blickte sich vielsagend in dem gediegen eingerichteten Sprechzimmer um, in das sein ehemaliger Kommilitone ihn gebeten hatte.

"Als Dermatologe ist das heutzutage keine Kunst", zuckte Günter Egbrecht lachend die Achseln. Wenn er lachte, sah er immer noch genauso sympathisch aus wie damals an der Universität. "Die Hautleiden haben in den letzten zehn Jahren dermaßen zugenommen, daß ich den Patientenansturm kaum bewältigen kann."

"Ich muß dir gestehen, daß ich hier bin, um mich diesen Heerscharen anzuschließen", ergriff Dr. Kalwin die Gelegenheit, auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen. "Ich brauche nämlich deinen Rat als Dermatologe."

"Im Ernst?" warf Dr. Egbrecht ihm einen überraschten Blick zu, der schließlich an der geröteten Stelle auf seiner Wange verharrte. "Du warst doch damals selbst in Dermatologie um Längen besser als ich."

"Ich denke, du hast den Anlaß für mein Kommen bereits ausgemacht", entgegnete Dr. Kalwin leichthin, obwohl der Schmerz in seinem Gesicht es ihm schwermachte, unbefangen zu sprechen. "Und ich hoffe, du kannst aufgrund deines inzwischen sicherlich erheblichen Erfahrungsschatzes meine Lehrbuchdiagnose für nichtig erklären."

"Laß mich das mal genauer ansehen", wurde Dr. Egbrecht nun ganz Facharzt, bat Dr. Kalwin, im Untersuchungsstuhl Platz zu nehmen und betrachtete seine Wange unter einer gleißend hellen Lampe. Nachdem er schließlich eine Gewebeprobe entnommen und ihm noch einige Fragen gestellt hatte, sagte er ernst: "Ich kann dir deinen Wunsch nach einer harmlosen Erklärung wohl nicht erfüllen. Wir schicken die Gewebeprobe gleich mal ins Labor und machen mit deinem Blut noch einen virologischen Test und das übliche Zeug, aber im Grunde bin ich mir sicher, daß das eine Gesichtsrose ist. Fühlst du dich in letzter Zeit nicht wohl? Hast du vielleicht seit einiger Zeit leichtes Fieber? Höchstwahrscheinlich hast du in der betroffenen Gesichtshälfte schon etwas länger Schmerzen, nicht wahr?"

Dr. Kalwin gab ihm mit einem Kopfnicken recht.

"Warum kommst du erst jetzt?"

"Wahrscheinlich, weil ich mich vor deiner Diagnose gefürchtet habe", gab Dr. Kalwin schulterzuckend zu. "Ich weiß, daß bei dieser Sache viel an den Patienten herumprobiert wird, aber im Grunde scheint der Therapieerfolg so eine Art Glücksspiel zu sein."

"Ganz so auf den Zufall angewiesen sind wir heute nicht mehr, das solltest du eigentlich wissen. Es gibt zum Beispiel recht vielversprechende Virostatika. Aber die Behandlung ist langwierig und eine Garantie gibt es natürlich nicht. Ich will zu dir ganz offen sein: Wenn zu mir ein Patient mit einer Gesichtsrose oder einer Gürtelrose kommt, dann gebe ich ihm, sofern es mir bei dem Menschen vertretbar erscheint, die Adresse einer hiesigen Besprecherin. Ich halte die Frau für seriös und ihre Erfolgsquote kann sich sehen lassen, denn sie liegt deutlich über der unseren. Im übrigen verfahren viele meiner Kollegen im Falle dieser Erkrankung ebenso."

"Mein lieber Günter", schüttelte Dr. Kalwin ungläubig den Kopf, "wie du weißt, bin ich Psychiater und schlage mich daher tagtäglich mit den angeblich wundersamen Talenten und magischen Fähigkeiten meiner Patienten herum. Also bitte verschone mich mit deiner Handauflegerin, das ist nun wirklich nichts für mich."

"Wie du meinst", entgegnete Dr. Egbrecht mit leicht säuerlicher Miene, die sich jedoch bald wieder glättete. "Sollte der Befund sich bestätigen, werden wir es erst einmal mit Austrocknung versuchen. Soll ich dir einstweilen ein Schmerzmittel mitgeben?"

"Nein danke, damit versorge ich mich schon selbst, wenn es nicht anders geht." Dr. Kalawin lächelte gequält. "Es ist mir mehr als zuwider, so betäubt herumzulaufen. Ich habe dann immer das Gefühl, mir entgeht etwas."

"Kann ich verstehen", stimmte Dr. Egbrecht ihm zu. "Aber die Angelegenheit kann höllisch schmerzhaft werden, was ich dir natürlich nicht wünsche."

"Ich danke dir jedenfalls für deine Diagnose. Wegen der Tests rufe ich später noch an", erhob sich Dr. Kalwin und erblickte dabei in einem Spiegelschrank sein Gesicht, über das vom rechten Ohr aus eine Gruppe leicht erhabener roter Flecken in sanftem Bogen zum Auge wanderte. Sie schienen jetzt noch stärker zu leuchten als am Morgen. Auch der brennende Schmerz hatte weiter zugenommen.

Dr. Egbrecht begleitete ihn zur Tür und drückte ihm zum Abschied herzlich die Hand. "Wenn es dir wieder besser geht, Alex, müssen wir unbedingt eine Flasche Wein auf die gute alte Studienzeit leeren", schlug er mit glaubwürdigem Optimismus vor. "Oder hält deine Frau dich an der kurzen Leine?"

Dr. Kalwin wollte lachen, doch ein stechender Schmerz zuckte über seine Wange und das Lachen gefror auf seinem Gesicht. "Ich bin noch ganz mein eigener Herr, was manchmal schwierig genug war, wenn ich an den Ehrgeiz einiger Möchtegern-Schwiegermütter denke", zwang er sich dennoch zu einem launigen Tonfall. Er hatte es schon immer gehaßt, wenn jemand ihn mitfühlend ansah.

"Kann ich mir lebhaft vorstellen", zwinkerte Günter Egbrecht ihm zu. "Schon damals, als du noch Student warst, mußte man ein gesundes Selbstvertrauen haben, wenn man mit dir ausging. Denn als dein Heldenbegleiter wurde man von der Weiblichkeit höchstens beachtet, um auf eine Handtasche aufzupassen oder seinen Kugelschreiber zu verleihen, damit die Telefonnummer ihres Idols notiert werden konnte."

Diesmal machte Dr. Kalwin nicht den Fehler, das Gesicht zu einem Lachen zu verziehen. "Mir scheint, dein Uroptimismus hat damals keinen Schaden gelitten", entgegnete er und bemühte sich dabei, den anderen nicht merken zu lassen, wie schwer ihm selbst das Sprechen auf einmal fiel. Zum Glück wurde Dr. Egbrecht von seiner Sprechstundenhilfe ans Telefon gerufen, so daß sich der Abschied nicht noch mehr in die Länge ziehen konnte.

Wenig später stieg er in sein Auto und fuhr zur Klinik zurück. Bei der Arbeit würde er wenigstens von den Schmerzen abgelenkt sein. Doch bereits am Nachmittag waren sie so schlimm, daß er daran dachte, ein Schmerzmittel zu nehmen, um überhaupt weiterarbeiten zu können. Am Abend bestätigte Dr. Egbrecht in einem kurzen Telefonat seine Befürchtung, daß er unter einer Form von Zoster, einer Gesichtsrose, litt. Diese Krankheit war dafür bekannt, daß sie bei den Betroffenen zu unerträglichen Schmerzzuständen führen konnte.


*


Die Frau, deren Adresse Dr. Kalwin schließlich doch bei Dr. Egbrecht erfragt hatte, wohnte in der Vorstadt. Graue Mietshäuser in langen Reihen, umsäumt von den obligatorischen Rasenstreifen und Heckenrosenbeeten, ein Supermarkt einer bekannten Ladenkette, ein windschiefer Kiosk, von dessen Holzwänden die grüne Farbe abblätterte und eine Reihe verkümmerter Straßenbäume verliehen der gesamten Gegend ein tristes Aussehen. Dr. Kalwins fünf Jahre alter, metallic-blauer Mercedes wirkte hier wie ein Neuwagen auf einem Schrottplatz.

Nachdem er drei Wochen lang trotz starker Analgetika unter schier unerträglichen Schmerzen gelitten hatte, war Dr. Kalwin verzweifelt genug, die von ihm zunächst so barsch zurückgewiesene Besprecherin aufzusuchen, die Dr. Egbrecht ihm empfohlen hatte. Die therapeutischen Maßnahmen des Hautarztes hatten bei Dr. Kalwin nur ein vorübergehendes Verblassen des Ausschlags bewirkt, aber die Schmerzen hatten nicht abgenommen.

Wer Dr. Kalwin kannte, wäre über sein Aussehen sicherlich erschrocken gewesen. Er hatte mindestens 10 Kilo an Gewicht verloren und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Über seine rechte Wange zog sich ein roter, bogenförmiger Ausschlag zum Auge hinauf. Seine Blick hatte erheblich an Klarheit verloren, unter dem dünnen Schleier der Betäubung brannte in seinen Augen dumpf der Schmerz.

Auf seinen Anruf hin hatte die Frau ihn heute nachmittag zu sich bestellt. Allerdings hatte sie gesagt, sie könne noch nichts versprechen, bevor sie ihn nicht persönlich gesehen hatte. Jetzt betrat Dr. Kalwin das Treppenhaus, in dem es penetrant nach grüner Seife und gekochtem Kohl roch. Eine Frau in einem bunten Kittel, die sich gerade an einem der Briefkästen zu schaffen machte, sah ihm neugierig nach, als er zum dritten Stock hinaufstieg. Obwohl Dr. Kalwin viel von seiner souveränen Ausstrahlung verloren hatte, war er immer noch eine bemerkenswerte Erscheinung.

"Irmgard Schäfer" stand auf dem schwarzweißen Plastikschild über der Klingel, die Dr. Kalwin jetzt betätigte. Kein zusätzlicher Vermerk wie "Heilerin" oder "Medium" verwies auf die besonderen Fähigkeiten dieser Frau. In der Wohnung ertönte ein melodiöses Glockenspiel. Kurz darauf öffnete eine brünette, mittelgroße Frau Ende sechzig die Tür. Sie sah ihn nur kurz an und bat ihn dann herein, ohne zu fragen, wer er sei.

"Sie haben schon zu lange Schmerzen. Sie hätten früher kommen sollen", war alles, was sie zu ihm sagte, während sie ihn in ein konservativ eingerichtetes Wohnzimmer führte und auf dem Sofa Platz zu nehmen bat. Ihre Augen, die ungewöhnlich aufmerksam über sein Gesicht glitten und einen wachen Verstand verrieten, wandten sich plötzlich von ihm ab und nahmen einen abwesenden Ausdruck an. Obwohl Dr. Kalwin es eigentlich erwartet hatte, kam er sich bei diesem Vorgang keinen Augenblick lächerlich vor. Das ganze Gebahren der Frau hatte nichts Geheimniskrämerisches oder gar Komödienhaftes an sich. Was sie tat, wirkte völlig ungekünstelt und schien für sie eine Selbstverständlichkeit zu sein.

Mit derselben Sicherheit, mit der sie ihn hereingebeten hatte, sagte sie jetzt zu ihm: "Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Um das beurteilen zu können, mußte ich Sie persönlich kennenlernen. Bei manchen Menschen habe ich einfach keine Möglichkeit, auf ihre Krankheit Einfluß zu nehmen. Das hat weder mit meinem Willen noch mit Sympathie oder Antipathie zu tun. Es ist einfach so. Sie müssen jemand anderen finden, der Ihnen hilft. Es tut mir wirklich sehr leid."

Dr. Kalwin hatte mit einer horrenden Honorarforderung gerechnet, mit irgendwelchen abstrusen Ritualen oder ähnlich aufwendigem Hokuspokus, aber nicht mit dieser einfachen Zurückweisung.

"Wollen Sie es nicht wenigstens versuchen?" fragte er irritiert, als die Frau bereits Anstalten machte, ihn wieder hinauszubegleiten.

"Bei dem, was ich tue, gibt es kein Versuchen", lächelte sie ihm fast ein wenig verlegen zu. "Man macht es ganz oder gar nicht. Und man muß wissen, wann es keinen Sinn hat. Ich könnte Ihnen die Adresse von einem Herrn geben, der auch die Gürtelrose bespricht, aber er ist zur Zeit auf Reisen und in Ihrem Fall ist offensichtlich Eile geboten. Vielleicht kennt Dr. Egbrecht noch jemanden, der für Sie in Fragen käme."

"Ich werde mir schon zu helfen wissen", entgegnete Dr. Kalwin gequält und folgte der Frau, die nicht teuer, aber sorgsam gekleidet war, zur Haustür.

"Entschuldigen Sie, daß Sie umsonst hergekommen sind. Aber es wäre nicht recht von mir, würde ich Ihnen Hoffnungen machen, obwohl ich weiß, daß ich nicht helfen kann." Nichts hätte Dr. Kalwins Vorbehalte gegenüber der tatsächlichen Befähigung dieser Frau besser erschüttern können als ihr Verhalten ihm gegenüber. Doch das nützte ihm nichts. Er brauchte Hilfe, und er brauchte sie schnell. Noch ein paar Nächte mit diesen furchtbaren Schmerzen, und er würde vielleicht zu Medikamenten greifen, deren Nebenwirkungen fatal waren. Er machte sich über seine Standhaftigkeit nicht mehr viel vor, denn er kannte jetzt den Punkt, an dem man nur noch wollte, daß der Schmerz aufhört, egal um welchen Preis.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 29. September 1997

16. Februar 2007