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PSYCHO/036: ... und tief ist sein Schein (36) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Auch heute zeigte Preacher keinerlei Regung, als der Stationschef in das Krankenzimmer trat. Im Grunde war Dr. Kalwin froh, daß hier kein Patient lag, auf den er tiefer eingehen mußte, denn was geschehen war, nahm ihn trotz seiner Bemühungen um Nüchternheit immer noch gefangen. Flüchtig überzeugte er sich von Preachers unverändertem Zustand, um sich danach gänzlich entgegen seiner Gewohnheit in dem sterilen Stahlrohrsessel niederzulassen, der für Besucher neben dem Krankenbett stand.

Es erschreckte und erboste ihn zugleich, daß es ausgerechnet jemandem wie Merle gelungen war, ihn so tief zu treffen. Auch wenn Merle nicht wissen konnte, wieviel ihm an Viola gelegen war, mußte sein teuflischer Instinkt ihm genug verraten haben, damit er in seinem kranken Hirn die verabscheuungswürdige Tat ausbrüten konnte. Dr. Kalwin zweifelte keinen Augenblick daran, daß Merle es nicht in erster Linie auf Viola, sondern auf ihn abgesehen hatte. Merles Psychogramm war nicht das eines Triebtäters, obgleich ihm ohne weiteres jede Abscheulichkeit zuzutrauen war, wenn sie nur irgendwo mit seiner abartigen Gedankenwelt in Übereinstimmung gebracht werden konnte.

Erneut stiegen Zorn und Ekel in Dr. Kalwin auf. Solche Kreaturen verdienten es nicht, daß ihnen die Gesellschaft einen Platz einräumte, selbst wenn es nur die Zelle in einer Anstalt war. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Noch gestern hätte er Viola am liebsten in den Arm genommen, als sie ihm am Morgen in der Eingangshalle entgegengekommen war. Der Wind hatte ihr Haar zerzaust und ihre Wangen gerötet, und es war ihm schwer gefallen, sich an sein eigenes Versprechen zu halten und sie nicht zu einer Entscheidung zu drängen. Heute war das alles für ihn kein Thema mehr. Er würde es einfach nicht mehr über sich bringen, Viola zu umarmen. Die bloße Vorstellung, daß Merle vielleicht auch den Arm um sie gelegt haben könnte, hielt ihn davon ab.

Abrupt wollte er sich erheben, als er plötzlich in der Bewegung erstarrte und mit ungläubigem Gesichtsausdruck in den Sessel zurücksank. Preacher, der eben noch mit leerem Blick ins Weite gestarrt hatte, sah ihn mit wachen Augen an. Er hatte nur den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, dennoch erschien Dr. Kalwin Preachers gesamte Körperhaltung verändert. Etwas Bezwingendes ging von ihm aus, das Dr. Kalwin bisher nie an ihm wahrgenommen hatte, etwas, das nicht zuließ, ihn zu ignorieren oder nur beiläufig mit dem Blick zu streifen.

Dr. Kalwin fühlte sich auf eigentümlich intime Weise berührt, als Preacher beinahe flüsternd und dennoch mit ungemein tragender Wirkung zu sprechen begann:

"Du bist, Dr. Kalwin, ein irregeleiteter Mann. Dünkelhaft, verblendet, unfähig zur Verinnerung."

Preacher schaute Dr. Kalwin an, als würde er Protest erwarten. Als dieser jedoch ausblieb, fuhr er unverzögert fort: "Du hast mir gezürnt, weil ich nicht zu dir gesprochen habe, um deinen Schmerz zu vertreiben. Doch ich hatte meine Gründe." Wieder schwieg er einen kurzen Augenblick, als wollte er Dr. Kalwin Gelegenheit geben, seine Worte zu überdenken. "Seither ist viel geschehen. Du hast Entscheidungen getroffen. Du hast deine Richtung gewählt. Ich halte nun an meinem Entschluß nicht länger fest. Ich werde dich heilen."

Preacher hielt erneut einen Moment inne und sah Dr. Kalwin direkt in die Augen. Der Arzt spürte, daß Preacher etwas in ihm ansprach, von dem er selbst bisher nichts gewußt hatte und über das er keinerlei Kontrolle besaß. Ohne den Blick abzuwenden, fuhr Preacher nun immer noch leise und um so eindringlicher fort:

"So höre denn, Dr. Kalwin, achte wohl auf. Ich werde reden -."

Dr. Kalwin machte zunächst Anstalten, sich zu erheben, denn eigentlich war ihm jetzt nicht danach, über Sinn oder Unsinn von Preachers Äußerungen nachzugrübeln. Andererseits war er als Psychiater von der Tatsache fasziniert, daß Preacher nach seiner immerhin schweren Bewußtseinsstörung sofort wieder in der Lage war, scheinbar logisch aneinandergereihte Sätze zu formulieren. Wenn es noch einen weiteren Grund gab, weshalb er schließlich doch sitzen blieb, so kannte er ihn nicht. Die Züge leicht angespannt, ließ er zu, daß Preachers Worte sanft und ohne nennenswerten Widerstand in sein Bewußtsein drangen.

"Was dir Schmerzen verursacht, Dr. Kalwin, was dir Unbehagen verursacht, dich in die Enge treibt, ist dein Streben nach Unterscheidung, ist dein Streben nach Besonderheit, ist dein Streben nach Abgrenzung. Es gibt nun einen Weg, Dr. Kalwin, die Unterscheidung zum Verschwinden zu bringen, die Abgrenzung unwirksam zu machen, die Besonderheit auszulöschen. Diesen Weg werde ich nun mit dir gehen."

"Da bin ich aber gespannt", sagte Dr. Kalwin, der sich zumindest ein wenig Ablenkung von dem versprach, was ihn eigentlich bewegte. "Ich denke nicht, daß du mich dazu bringen kannst, mit Leuten wie dir oder deinem Zellengenossen Merle freiwillig aus einer Tasse zu trinken..."

"Jeder Mensch, Dr. Kalwin, hat einen Körper. Du selbst hast einen Körper. Merle hat einen Körper. Darin unterscheidet ihr euch nicht. Darin stimmt ihr überein. Darin seid ihr euch gleich." Ein verächtlicher Ausdruck glitt kurz über Dr. Kalwins Züge. Die Vorstellung, auch nur irgend etwas mit einer Kreatur wie Merle gemeinsam zu haben, verursachte ihm beinah Übelkeit. Möglicherweise mangelte es ihm an diesem Tag an Entschlußkraft, weil er sich immer noch nicht erhob und Preacher ungehindert weitersprechen ließ.

"Wenn du Merle betrachtest, Dr. Kalwin, so denke nicht: Anders als ich selbst erscheint dieser Mensch. Mir selbst nicht gleichwertig erscheint dieser Mensch. Mir gegenüber unwert erscheint dieser Mensch. Denke vielmehr so: Ich habe einen Körper. Merle hat einen Körper. Ein Körper ist voll von Leiden, voll von Elend, voll von Unreinheiten. Darin unterscheiden wir uns nicht. Darin stimmen wir überein. Darin sind wir uns gleich."

Durch eine paralysierende Mischung aus Widerwillen und unerklärlicher Faszination schien Dr. Kalwin an Preachers Worte gefesselt.

"Inwiefern nun seid ihr euch gleich? Da sind an euren Körpern allerlei Unreinheiten: Körperhaare, Haupthaare, Nägel, Haut, Zähne, Sehnen, Knochen, Fleisch, Niere, Herz, innere Häute, Lunge, Magen, Darm, Gelenkschmiere, Fett, Tränen, Schweiß, Kot, Urin, Schleim, Nasenschleim, Blut, Eiter. Darin unterscheidet ihr euch nicht. Darin stimmt ihr überein. Darin seid ihr euch gleich."

Feine Schweißperlen hatten sich auf Dr. Kalwins Stirn gebildet, doch brachte er es immer noch nicht fertig, sich Preachers ungemein eindrücklicher Stimme zu entziehen, die seltsam ungehindert direkt in sein Innerstes zu dringen schien.

"In allem, was an euren Körpern abstoßend, unrein, widerwärtig, häßlich, übelriechend, glitschig, klebrig, ekelerregend ist, unterscheidet ihr euch nicht, stimmt ihr überein, seid ihr euch gleich."

"... unterscheidet ihr euch nicht, stimmt ihr überein, seid ihr euch gleich", echote es in Dr. Kalwins Bewußtsein, als würden diese Worte dort ein Eigenleben entwickeln. Ein Ausdruck zornigen Aufbegehrens lag nun auf seinem Gesicht, doch schien es etwas zu geben, das ihn immer weiter zum Zuhören zwang.

"Jeder Mensch, Dr. Kalwin, hat einen Körper. Du selbst hast einen Körper. Merle hat einen Körper. Wenn du Merle betrachtest, so denke nicht: Anders als ich selbst erscheint dieser Mensch. Mir selbst nicht gleichwertig erscheint dieser Mensch. Mir gegenüber unwert erscheint dieser Mensch. Denke vielmehr so: Ein Körper ist voll von Leiden, voll von Elend, voll von Unreinheiten. Darin unterscheiden wir uns nicht. Darin stimmen wir überein. Darin sind wir uns gleich. Inwiefern sind wir uns gleich? Da werden unsere Körper nach dem Tode auf den Begräbnisplatz hingeworfen, aufgelaufen, blau verfärbt, in Fäulnis übergegangen, stinkend, von Ungeziefer heimgesucht, das Knochengerüst fleischentblößt, blutbeschmiert, nur durch Sehnen zusammengehalten. So ist die Natur unserer Körper, solches steht ihnen bevor. Darin unterscheiden wir uns nicht. Darin stimmen wir überein. Darin sind wir uns gleich."

In Dr. Kalwin schien der Widerstand gegen Preachers Worte nun völlig erloschen zu sein. In seinem Gesicht ging eine Veränderung vor, die wohl niemand für möglich gehalten hätte, sicherlich nicht einmal seine eigene Mutter. Alles Herrische, Kühle und Unnahbare war daraus gewichen. Es war beinah ein Jungengesicht, doch so hatte Alexander Kalwin auch in seiner Jugend niemals ausgesehen. Eine Offenheit und Verletzlichkeit lag in seinen Zügen, die beinah betroffen machte, ein Ernst, der weder zu Arroganz noch zu Unterwürfigkeit fähig war. Trotz ihres allein von der Statur her so verschiedenen Äußeren sahen er und Preacher in diesem Augenblick beinah wie Brüder aus. Nur daß Preacher reifer wirkte, sehr viel reifer, und daß in seinem Blick, der auf dem anderen ruhte, ein Ausdruck von Bedauern lag.

Dr. Kalwin erhob sich nun mit einer Bewegung, die vollkommen unverstellt war, schaute sich um, als sähe er den Raum zum ersten Mal, brachte Preacher mit einer ihm bisher fremden Sorgfalt ein Glas Wasser und trat dann schweigend und ohne Hast auf den Flur hinaus.

Dort kamen ihm zwei Pfleger entgegen, die einen Patienten in Handschellen über den Gang führten. Als der dunkelhaarige Mann Dr. Kalwin sah, fing er leise und gehässig an zu lachen. Es war Merle. Dr. Kalwins Haltung versteifte sich. Die Adern auf seiner eben noch glatten Stirn traten bläulich hervor. " ... darin unterscheiden wir uns nicht, darin stimmen wir überein, darin sind wir uns gleich ..." tönte es unerbittlich in seinem Innern. Dr. Kalwin konnte nicht anders. Er wußte einfach, daß es sich so verhielt.

Und dann sah er Merles grausam verstümmelte Seele, sah die Vergeblichkeit seines Strebens, sich durch Haß und Verachtung Linderung zu verschaffen, sah, wie all seine Taten und Gedanken nichts waren als ein sinnloses Zucken und Zappeln, während er unaufhaltsam dem eigenen Tod entgegenwankte. Dr. Kalwin sah Merle zum ersten Mal - und sah sich selbst.

Mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr hatte, rannte er in das Pflegerzimmer, dessen Tür gerade offenstand, warf sich gegen die unvergitterte Fensterscheibe und stürzte sich in die Tiefe. Es war ein Sprung aus dem 7. Stock. Alexander Kalwin war sofort tot.


*


Kaminsky und ein Kollege brachten Preacher auf Anweisung von Dr. Beck zu Merle in die Zelle zurück.

"Ich habe gesehen, daß Dr. Kalwin aus deinem Zimmer kam, bevor er auf dem Flur durchgedreht ist", empfing Merle seinen Zellengenossen mit unverhohlener Wißbegierde. "Was war das für ein geiler Fluch, Alter, was war das für ein Fluch?"

"Ich halte nichts von Flüchen, Merle. Das weißt du doch."

"Ja schon, Mann. Aber wieso springt unser Doc plötzlich aus dem Fenster? Bestimmt nicht aus Kummer, weil er glaubt, ich hab' seine Auserwählte vernascht."

"Ich habe ihm etwas geschenkt."

"Und deshalb ist er gesprungen?"

"Er wollte es nicht behalten", erwiderte Preacher schlicht.

"Weißt du was, Preacher", sagte Merle mit einem Anflug von Unbehagen in der Stimme, "manchmal bist du mir direkt unheimlich."

"Heimelig fühlt man sich dort, wo nichts Fremdes ist", entgegnete Preacher gleichmütig. "Und ich bin fremd, Merle, ich bin dir unsagbar fremd."

(ENDE)


Erstveröffentlichung am 16. März 1998

20. April 2007