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BERICHT/091: China - Bayerische Schlösser am Hai He-Fluss, Tianjin belebt Kolonialvergangenheit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. August 2011

China: Bayerische Schlösser am Hai He-Fluss - Tianjin belebt Kolonialvergangenheit

Von Antoaneta Becker

Am Ufer des Tianjin-Flusses ersteht die Vergangenheit neu - Bild: © Antoaneta Becker/IPS

m Ufer des Tianjin-Flusses ersteht die Vergangenheit neu
Bild: © Antoaneta Becker/IPS

Tianjin, China, 5. August (IPS) - Einst waren China die Perlen seiner einstigen Kolonialvergangenheit zuwider. Nun versucht der kommunistische Staat damit gezielt Touristen anzulocken. In der rund 100 Kilometer östlich von Peking am Hai He-Fluss gelegenen Stadt Tianjin wurde im vergangenen Jahr das historische Luxushotel Astor wiedereröffnet.

Chinas Kommunisten war das alte Astor immer ein Dorn im Auge gewesen, weckte es doch Erinnerungen an die gewaltsame Öffnung des Hafens durch ausländische Mächte in den 1860er Jahren. Generationen von Stadtvätern ließen die historischen Sehenswürdigkeiten wie das Astor verfallen, oder aber die Gebäude wurden bis zur Unkenntlichkeit umgebaut.

Ein ehemaliger Bürgermeister von Tianjin, Dai Xianglong, hatte jedoch eine Vision: Die ehemalige europäische Enklave sollte zur boomenden Hauptstadt Peking aufschließen. Als Dai 2003 in sein Amt kam, brachte er Kenntnisse ein, die er sich als Gouverneur der staatlichen chinesischen Volksbank erworben hatte. Er erkannte die Anziehungskraft, die die Kolonialvergangenheit auf Touristen ausübt. Dank seiner Verbindungen zu den Sphären der Macht konnte er die notwendigen Investitionen ermöglichen, um der Stadt ein neues Erscheinungsbild zu geben.

"Die chinesische Geschichte wurde auf einmal anders gedeutet. Tianjin erschien nicht länger als Opfer der Erniedrigung durch das Ausland", sagte der Historiker Chen Song-Chuan von der Universität Bristol in Großbritannien. Frisches Kapital habe dabei geholfen, den Identitätskonflikt von Tianjin zu lösen. Die Stadt setzte alles in Bewegung, um endlich aus dem Schatten Pekings hervorzutreten.


Dekadente Opulenz zelebriert

Das ehemalige Hotel Astor war nicht nur für seine dekadente Opulenz, sondern auch für politische Intrigen, Gier und Heimtücke seiner Gäste bekannt. Chinesische Kriegsherren und Prostituierte mischten sich dort unter westliche Diplomaten und gewissenlose Abenteurer.

Gegründet wurde die Nobelherberge 1863 von britischen Methodisten. Im Laufe der Jahre wurde sie zum beliebten Treffpunkt ausländischer Regierungsvertreter und zum luxuriösen Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Der letzte chinesische Kaiser Pu Yi und Kaiserin Wan Rong tanzten gern im Ballsaal des Hotels. Nach der Revolution übte das Astor auch auf die neuen politischen Machthaber seine Anziehung aus. Der erste provisorische Präsident der Republik China, Sun Yat-sen, regierte das Land einige Zeit von dem Hotel aus.

Seit das Astor nach grundlegenden Renovierungen 2010 wieder seine Pforten öffnete, können Besucher dort auch ein kleines Museum zur Geschichte des Hotels besichtigen. Dort ersteht die turbulente Vergangenheit Tianjins neu. Nach der Niederlage Chinas gegen Großbritannien und Frankreich im Zweiten Opium-Krieg 1860 wurden den siegreichen europäischen Staaten Konzessionsgebiete zugesprochen, die bis 1945 bestehen blieben.

Auch Länder wie Deutschland, Italien und Österreich-Ungarn erwarben in Tianjin Niederlassungsrechte und errichteten in den Enklaven entlang des Flusses ihre Prachtbauten. Zwar profitierte China ebenfalls von dem wachsenden Seehandel. Die Privilegien für die Ausländer schürten in der Bevölkerung jedoch zunehmend Ressentiments gegen die westlichen Großmächte.

Das neue Kolonialmuseum vermeidet es hingegen, die Vergangenheit als Schande für das Land darzustellen. Tianjins Geschichte wird nun zum Aushängeschild für die Stadt. Auf alten Menükarten ist zu lesen, welche Köstlichkeiten den in- und ausländischen Hotelgästen serviert wurden. Chinesische Warlords, die Villen innerhalb der europäischen Enklaven besaßen, sind ebenso wie die Kolonialherren auf lebensgroßen Porträtgemälden verewigt.


Späterer US-Präsident Hoover wurde durch Kohlenmine reich

Auch den Heldentaten des späteren US-Präsidenten Herbert Hoover wird reichlich Platz gewidmet. Er war Stammgast im Astoria und beherrschte die Mandarin-Sprache. Nachdem er als Ingenieur an der Ausbeutung der Kaiping-Kohleminen beteiligt war, soll er China als schwerreicher Mann verlassen haben.


Asiatische Stadt mit den meisten europäischen Villen

Neben dem Hotel säumt eine Reihe staatlicher Gebäude das Flussufer. Einige sehen aus wie bayerische Schlösser, andere haben entfernte Ähnlichkeit mit den Houses of Parliament in London. Während der Amtszeit von Dai wurden den ehemaligen Konzessionsgebieten neue Namen gegeben, die an Deutschland und Italien erinnerten. Der internationale Charakter der Stadt wurde zugleich als Teil des "chinesischen Erbes" ausgegeben.

Der Drang, aus früheren Zeiten Kapital zu schlagen, führte schließlich dazu, dass die alten Gebäude an anderen Stellen nachgebaut wurden. In den Straßen reihen sich inzwischen neoklassische Art-Déco-Fassaden aneinander. Auch nach der Wahl eines neuen Bürgermeisters setzt sich der Boom der Kolonialvergangenheit weiter fort. Tianjin hält den Rekord als einzige Stadt Asiens mit mehr als 800 Villen nach westlichem Vorbild. Dabei wird allerdings oft vergessen, dass die Verschönerung der Stadt die Umsiedlung Tausender Familien notwendig machte. (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2011