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METROPOL/004: London - Vom Schmecken und Nachfühlen der Ratten der, ... , Lüfte (SB)


London - Vom Schmecken und Nachfühlen der Ratten der, ... , Lüfte


Ich frage mich, haben alle Landkinder das im Herzen? Das wohlige Gefühl an Sommertagen, welches einen überkommt, wenn vorzugsweise am frühen Morgen oder Abend ein klares Gurren die Stille bricht und einen in der Vertrautheit des unverkennbaren Sommergeruchs wiegt. Man weiß schon in frühesten Jahren, irgendwo am Haus oder in einem der vielen Blätterdächer verbirgt sich jetzt eine Taube. Mir jedenfalls prägte sich dies sehr tief ein. Und noch etwas ist hängen geblieben: dieser gewisse Vorbehalt, der sich bei vielen Erwachsenen breit machte, wenn es um diese Vögel ging. Verstehen konnte und wollte ich das nie.

Dann kam ich in die Großstadt.
Hier braucht es nicht lange, um die gängige Bekanntschaft mit Tauben zu machen, von der das Gros der Menschen geprägt ist. Zu Tausenden findet man sie, meist an den bevölkertsten Plätzen einer Stadt. Bilder von Tauben in Burgerresten und Mülleimern prägen sich ein, und schon bald ist einem der Ausspruch 'Ratten der Lüfte' nicht mehr unverständlich.
Nun ist, wie in sämtlichen deutschen Groß- und Kleinstädten das 'Taubenproblem' auch in London allgegenwärtig. Ebensowenig war es mir fremd, als ich mich hierher aufmachte. Im Gegenteil, über viele bekannt gewordene Details, wie z.B. die Tatsache, daß erwiesen wurde, daß die Essensreste der Menschen sowie ihr ganzer Einfluß den Tauben bis in die Bereiche der Gene und des Gehirns Schäden zufügt, bin ich inzwischen genauso informiert, wie ich davon überzeugt bin, daß zwischen ihnen und den Menschen mit Sicherheit einige Vergleiche gezogen werden können und die Tauben dabei gar nicht so schlecht abschneiden würden.

Wenig überrascht traf ich sie so auch bei meinem ersten Besuch des Picadilly Circus an. Erstaunt war ich allerdings über die Menge, denn es waren eindeutig mehr Tauben als Menschen. Zugegeben es war ein grauer Tag. Allerdings war dieser Platz bekannt als Treffpunkt der Hippies in den sechziger Jahren und auch in den Achtzigern singt Billy Idol noch über diesen Platz als Pilgerstätte der Rebellion. Heute sind es die Tauben und die Touristen, die sich die kleinen Flächen hier streitig machen und eine gewisse Ähnlichkeit in Verhalten und Optik läßt sich nicht leugnen, nur daß es mich regelmäßig schmerzt beim Anblick der Tiere und ich ihnen wünsche zu verstehen, während dies bei den Menschen schon längst hätte einsetzen müssen und man vermuten muß, daß sie es vielleicht nicht anders wollen.

Bezüglich des Glaubens allerdings im Bereich der Deformation könnte mich nun wirklich nichts mehr groß überraschen, hat mich London mal wieder gehörig auf den Hintern gesetzt. In Kanada sind es die Waschbären, New York hat mehr Ratten als Menschen. Jetzt kommt die Stadt an der Themse: Sehr vertraut sind uns doch die niedlich frechen A Hörnchen und B Hörnchen aus den Comics, sehr putzig, aber ein bißchen zu frech für die Realität. Wir alle kennen die blitzschnellen Schatten, die man gelegentlich weghuschen sieht, wenn man menschenleere Parkwege betritt oder einem Baum zu nahe kommt, und die wir rekapitulierend als Eichhörnchen identifizieren. Sie werden in ihren Wesen auch mit Rehen verglichen - sind einem doch als rundweg liebenswert und selten zu erblicken im Gedächtnis. So kann man sich denken, wie verzückt ich war, als ich das erste Mal einen Londoner Park betrat und eines nach dem nächsten erblickte. Ein wenig größer und grauer als die mir geläufigen fand ich sie exotisch und damit umso spannender. Mein Gott, dachte ich mir, was müssen das für schöne Parks sein, in denen sich diese scheuen Tierchen so sicher fühlen.

In den folgenden Tagen überschlug ich mich mit dem Fotografieren dieser eleganten Nager, zumal man ihnen doch so nahe kommen konnte. Auch die nächsten Wochen hielten meiner Verzückung stand. Eins in den Blättern, eins am Ast, eins am Stamm, eins auf der Wiese, eins in den Blumenbeeten, eins auf den Spielgerüsten, eins auf dem Weg, eins auf dem Bürgersteig, eins bei den Brotkrumen, eins bei der Schachtel, eins in der Mülltonne - Moment...
Eins bei der Schachtel: Fried Chicken. Eins in der Mülltonne. Nah bei dir schauen sie dich an, die Augen weit aufgerissen. Eins bei den Brotkrumen.

Freches Eichhörnchen

Und dann traf ich eines höchst persönlich. Diesmal nicht in London, sondern auf Reisen in Dublin, ging ich im Park spazieren. Trotz eines inzwischen eingetretenen gewissen Unbehagens bezüglich der kleinen Nager, beobachtete ich sie auch diesmal wieder verliebt. Beobachtete ich eines ganz verliebt. Bis es weg war. Weg von der Wiese, hing es an meinem Bein. Seine kleinen Krallen in meinen Wollstrumpf greifend. Und auch wenn ich bis dato schon soweit informiert war, daß ich wußte, daß diese Tiere zumindest in London als Plage anerkannt sind und es sich hierbei nicht um die in Deutschland geläufigen braunen Artgenossen handelt, sondern um die aus Nordamerika eingebürgerten Grauhörnchen, die - so sagt man - dafür gesorgt haben, daß die anderen hier nun nicht mehr anzutreffen sind, hätte ich mir die eben geschilderte Szene nie träumen lassen. Und ich meine, man braucht nicht lange zu denken, um auch hier auf deformiertes Verhalten zu tippen.

Deformiert, wie der Mensch es wohl beurteilen muß, vielleicht auch nicht dumm?
Dem allgemein menschlichen Verhalten nach zu urteilen, müssten wir das sagen, um uns nicht selber bloßzustellen. Denn diese Tiere tun nichts anderes als wir: Dahin gehen, wo es Nahrung gibt, dahin gehen, wo es mehr Nahrung gibt, genießen vorm Denken, schmecken vorm Nachfühlen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns besteht darin, daß wir dieses Vorgehen bis zur Meisterschaft perfektioniert haben und es in Büchern und Abhandlungen unter der Aufwendung unseres ganzen Intellekts verteidigen und begründen.

So ist es auch nicht verwunderlich, daß uns die Tiere mit diesen deformierten und vermenschlichten Verhaltensweisen nicht selten bewußt oder unbewußt näher sind, als manche andere und daß viele von uns sich doch freuen über die kleinen zahmen Nager, die uns so lieb anschauen, während ihre braunen Artgenossen hingegen immer gleich die Flucht ergreifen. Ähnlich wie die Katzen, so wild und eigen. Sind uns nicht auch die treuen, warmen Hunde meist viel lieber, als zum Beispiel wilde Hunde, die wie die Füchse mager, fremd und scheu durch die Nacht streunen?

Denn auch sie kann man als Stadtbewohner bezeichnen, wie ich weiß, seit ich hier bin und einige durch das nächtliche London streifen sah. Einzig ihre Vorgehensweise ist eine ganz andere. Nicht versöhnlich und allzeit erreichbar, wie sich zum Beispiel die Eichhörnchen geben, sondern scheu und stolz. Sie kuscheln sich nicht überall an, wo es bequem erscheint. Und doch ist ihre Präsenz durchweg vorhanden, manchmal in Form eines Schattens bei Nacht, wie der der kleinen braunen Eichhörnchen bei Tage. Manchmal aber auch durch Eindrücke, die einem Stunden des Schlafes rauben können.
Habt ihr zum Beispiel schon mal einen Fuchs schreien hören? Beim nächsten Mal möchte ich euch von meiner ersten Nacht mit einem schreienden Fuchs in London erzählen.



















Bis dahin grüße ich aus der Dunklen Stadt
BB


22. Juli 2009