Schattenblick →INFOPOOL →UNTERHALTUNG → REISEN

SOZIALES/002: USA - Auf dem Weg in die Unterwelt (uni'leben - Uni Freiburg)


uni'leben - 02/2010
Die Zeitung der Universität Freiburg

Auf dem Weg in die Unterwelt
Einblicke in eine von Obdachlosen bewohnte Zeltstadt bei Los Angeles

Von Sieglinde Lemke


Der Zeltplatz liegt nicht weit vom Flughafen entfernt zwischen zwei Bahnlinien. Alle 30 Minuten donnert ein Güterzug mit feuerroten Waggons mit der Aufschrift "Santa Fe" vorbei. Die Zelte, die sich auf dem umzäunten Gelände befinden, sehen alle gleich aus. Vorletzte Nacht haben die heftigen Regengüsse den Platz überflutet, so dass das Hab und Gut der Obdachlosen völlig durchnässt wurde. "Ich bin jetzt schon drei Jahre hier, wer weiß, ob ich hier jemals wieder rauskomme", sagt Brad Kraemer. Unterm rechten Arm einen Golfschläger, unterm linken ein Schreibheft, humpelt der Ex-Football-Profi an der schweren Eingangspforte vorbei zu seinem Zelt - eines von 65 in Ontarios Tent City, einem Zeltlager für Obdachlose, 60 Kilometer östlich von Los Angeles.


44 Millionen Arme in den USA

Seit zweieinhalb Jahren nennt Brad ein sechs Quadratmeter großes Zelt sein Zuhause. Auch wenn er darin nicht aufrecht stehen kann und es weder Licht noch Wasser gibt, hält er das für "Luxus im Vergleich zur Parkbank". Da er einer der 65 offiziell zugelassenen Bewohner des Armenlagers ist, kann er ungestört durch das Tor mit der Aufschrift "Unbefugten ist der Zutritt strengstens verboten" zu seiner Behausung gelangen. Die weiße Tafel neben dem Maschendrahttor warnt davor, dass die Bewohner der Zeltstadt potenzielle Kriminelle, Vergewaltiger oder mit Krankheiten Infizierte seien. Mit Blick auf Ontarios Tent City fragt man sich: Was macht Amerika mit seinen Armen, und was machen die Armen, um zu überleben? Fast 40 Millionen amerikanische Staatsbürger leben unterhalb der Armutsgrenze, also von weniger als 10.991 Dollar im Jahr (654 Euro im Monat). Mit über 13 Prozent hat der Anteil der Armen an der US-amerikanischen Bevölkerung seit elf Jahren einen Höchststand erreicht. Laut der amerikanischen Behörde für Bevölkerungsstatistik ist die Zahl der Armen allein im Jahr 2008 um 2.5 Millionen gestiegen. Die Daten für das Rezessionsjahr 2009 sind noch nicht bekannt, Schätzungen zufolge sind es inzwischen 44 Millionen. Kein Wunder, dass die Armenlager seit 2007 quer durch die USA wie Pilze aus dem Boden schießen. Im Gegensatz zu "Nickelsville" in Seattle, "Hooverville" in Sacramento und "Obamaville" in Colorado Springs ist Ontarios "Camp Hope" - also Camp der Hoffnung, so die beschönigende Neubenennung, eine Besonderheit. Vor einem Jahr wurde das bis dahin illegal von Obdachlosen errichtete Camp geräumt und in einen bewachten Zeltplatz verwandelt. Heute befinden sich anstatt anfangs 400 nur noch 65 Zelte auf dem quadratischen Gelände versprenkelt. Neben acht Dixie-Toiletten stehen den Zeltstadt-Bewohnern zwei Kaltwasserduschen zur Verfügung. Das Camp befindet sich buchstäblich am Stadtrand. Schon deshalb ist den Bewohnern die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erschwert. Ihr Radius ist auf das beschränkt, was man mit dem Fahrrad erreichen kann. Aber im Umfeld von zehn Kilometern gibt es keine Aushilfsjobs, und schon gar nicht für jemanden aus Camp Hope. Die räumliche Ausgrenzung geht Hand in Hand mit der sozialen. Abgesehen von den örtlichen Kirchengemeinden kümmert sich niemand um die Mitbürger, die das Pech hatten, hier zu enden. "Die wenigsten schaffen es, hier herauszukommen. Unsere Erfolgsrate ist relativ niedrig", erklärt Brent Scholz, der für die Zeltstadt verantwortliche Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Trotz des knappen Budgets von 30.000 Dollar staatlicher Förderung für die Obdachlosenverwaltung hat die Stadt Ontario, dank der Zusammenarbeit mit der Non-Profit Organisation Mercy-House, ein umfassendes Serviceprogramm für ihre 65 offiziell registrierten Zeltbewohner auf die Beine gestellt. Mit der Beflissenheit eines Verwalters proklamiert Scholz: "Wir glauben an das Service-Modell. Aber wir können eben nicht allen helfen."


Scherben des "American Dream"

Viele Einwohner der Stadt wissen noch nicht einmal von der Existenz eines Camps für Arme. Obwohl Armut im Stadtbild der amerikanischen Metropolen alles andere als unsichtbar ist: "Uns gibt es überall", diagnostiziert Barbara, ebenfalls Bewohnerin von Camp Hope, und lässt ihren Blick in die Ferne schweifen. Mit ihrem rosa Pulli, dem bunten Sommerrock und den Flip-Flops könnte die sommerlich gebräunte Frau ebenso auf dem Weg in ein Yogastudio sein. Statt einer Yogamatte hält sie einen Gepäckroller unter dem Arm, aus dem eine Autobatterie hervorragt. "Die muss ich aufladen, damit ich heute Abend endlich wieder lesen kann. Das kostet zehn Dollar, viel Geld, wenn man keine Sozialhilfe bekommt. Früher haben meine Mutter und meine Schwester mir was gegeben, aber das ist auch vorbei." Im nächsten Atemzug beklagt sie sich über die Campgenossen: "Heute früh hat mir jemand meine Decke geklaut. Hier sind doch alle nur auf ihren eigenen Vorteil aus, keiner hilft dem anderen."

Als das Eingangstor hinter Barbara ins Schloss fällt, bemerkt Brad trocken: "Mit der würde ich mich nie einlassen. Die ist eine Hure." Auch sonst ist seine Perspektive auf die anderen Bewohner von Camp Hope nicht schmeichelhaft: Es gäbe hier Sozialschmarotzer, die trotz eigener Wohnung freiwillig hierher gezogen seien, um Essen und Kontakte abzugreifen. Die Frauen seien alle Prostituierte, ein Wachmann habe Drogen verkauft, die Hauptverantwortliche in der Stadtverwaltung sei eine Lesbe, weil sie generell die Frauen im Camp begünstige. Im College spielte der 57-Jährige in der Uni-Baseballmannschaft und in den frühen 80er-Jahren erhielt er als Profispieler bei den "49ers", dem erfolgreichen American-Football-Team aus San Francisco, ein Jahresgehalt von 69.000 Dollar. Durch einen Unfall auf einer Party zog sich Brad eine Rückenverletzung zu, die ihm zwar 15.000 Dollar Entschädigung einbrachte, aber seine Sportkarriere abrupt beendete. Auf die Frage nach seinem Weg in die Zeltstadt antwortet Brad: "Nachlässigkeit. Nur ich selber und niemand anders ist schuld. Das Leben ist ein Glücksspiel - alles nur eine Frage des Timings." Vor zweieinhalb Jahren hatte er wohl Glück im Unglück, als er eine vorübergehende Heimat in der Tent City fand. "Es wird Zeit, dass ich gehe", sagt er und steht auf. Er meint damit wohl nicht den Weg aus der Zeltstadt zurück ins normale Leben.


INFO:
Prof. Dr. Sieglinde Lemke ist Professorin für Amerikanistik an der Universität Freiburg. Sie arbeitete im Rahmen eines Forschungsprojekts des Freiburg Institute for Advanced Studies an der University of California in Los Angeles und an der Harvard University in Cambridge/USA.


*


Quelle:
uni'leben - 02/2010, Seite 9
Herausgeber: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
der Rektor, Prof. Dr. Hans-Jochen Schiewer
Redaktion: Eva Opitz (Redaktionsleitung),
Benjamin Klaußner, Rimma Gerenstein
Presse und Öffentlichkeitsarbeit
Fahnenbergplatz, 79098 Freiburg
Telefon: 0761/203-4301, Fax: 0761/203-4278
E-Mail: unileben@pr.uni-freiburg.de
Internet: www.leben.uni-freiburg.de

uni'leben erscheint sechsmal jährlich.
Jahresabonnement 9,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2010