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SCHLUCKAUF/0074: Das unerrichtbare Denkmal - Nachtisch & Satire (SB)


Das unerrichtbare Denkmal


Der Historiker Hartwig Aufruhr, Spezialgebiet Widerstandsbewegungen, sammelt seit Jahren so unermüdlich wie erfolglos Spenden für ein "Denkmal des unbeugsamen Rebellen". SCHLUCKAUF sprach mit ihm über einen bis heute oft ausgesparten Aspekt des Widerstands in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern während des Zweiten Weltkriegs.

SCHLUCKAUF: Inzwischen gilt es als erwiesen, daß allein durch die Mitarbeit zahlloser sogenannter Funktionshäftlinge beim Betreiben der deutschen Konzentrationslager das gigantische Vernichtungssystem der Nazis überhaupt aufrecht erhalten werden konnte.

AUFRUHR: In der Tat. Ohne die Mitarbeit der Häftlinge, die selbstverständlich überlebensrelevante Vorteile davon hatten, hätte die Wehrmacht viel zu viele Kräfte von den Fronten abziehen müssen, um die riesigen Lagerkomplexe zu verwalten und die systematische Massenvernichtung durchzuführen. Im Konzentrationslager Buchenwald zum Beispiel haben kommunistische Häftlinge die Organisation des Lagers den dort zuvor von den Nazis als Handlanger eingesetzten Kriminellen vollständig aus der Hand genommen.

SCHLUCKAUF: Dadurch, sagt man, hatten sie die Möglichkeit, viele andere Häftlinge und besonders Kinder unter allen erdenklichen Vorwänden vor dem Tod durch Verhungern und in der Gaskammer zu bewahren.

AUFRUHR: Das ist richtig. Aber die Sonderstellung der kommunistischen Häftlinge, die auch deren eigenes Überleben sicherte, hatte natürlich ihren Preis. Die Nazis haben ihnen diese Einflußmöglichkeit nicht ohne Gegenleistung eingeräumt. Überhaupt nach dieser Gegenleistung zu fragen, war schon damals nicht gerade journalistischer Standard. Vor allem nicht in der DDR.

SCHLUCKAUF: Nein. Vielmehr wurden, besonders in der jungen DDR, die kommunistischen Funktionshäftlinge aus Buchenwald uneingeschränkt als Helden gefeiert. Und ihnen wurden bereitwillig Sonderstellungen im jungen Arbeiter- und Bauernstaat eingeräumt.

AUFRUHR: Die ihnen sicherlich niemand mißgönnte. Sie haben Furchtbares durchgemacht. Und viele sind große Risiken eingegangen, um anderen zu helfen. Aber es hat auch eine, wenn auch verschwindend kleine, Gruppe politischer Häftlinge gegeben, die im Gegensatz zu den Funktionshäftlingen zu keinerlei Kooperation mit den Nazis bereit gewesen ist. Ich meine diejenigen, die die Nazi-Wachmannschaften durch eine konzertierte Aktion zum Äußersten entschlossener Häftlinge niederkämpfen wollten. Die nicht einsahen, daß zehn Bewaffnete mehr als hundert Unbewaffnete wie eine Herde Vieh in den Tod treiben konnten. Die aber mit ihren radikalen Plänen fast immer an Furcht und Verrat in den eigenen Reihen gescheitert sind. Diese unbeugsamen Kämpfer tauchen in der Geschichte des Widerstands allenfalls randläufig auf.

SCHLUCKAUF: Ja, das stimmt. Warum eigentlich? Selbst wenn sie an der Angst der eigenen Leuten gescheitert sind, waren sie deshalb doch nicht weniger mutig. Und verdienen im Grunde allerhöchste Anerkennung -

AUFRUHR: Das ist ja mein Reden. Zumindest ein Denkmal verdienen sie. Aber lassen Sie sich von mir erklären, weshalb es dieses Denkmal wohl nie geben wird.

SCHLUCKAUF: Warum sollte es das nicht geben?

AUFRUHR: Weil dieses Denkmal ein Schandmal für alle darstellen würde, die als Funktionshäftlinge mit den Nazis kooperiert haben.

SCHLUCKAUF: Wieso denn das?

AUFRUHR: Stellen Sie sich die Situation doch einmal vor. Soweit das überhaupt möglich ist. Sie sind als Kommunist ins KZ gebracht worden. Und haben natürlich furchtbare Angst, von den Nazis umgebracht zu werden. Im Lager kennen Sie von ihrer früheren konspirativen Tätigkeit her viele Gleichgesinnte. Alle haben Angst, alle wollen überleben. Das ist die Hauptsache. Aber sie wollen auch getreu ihrer Gesinnung den anderen helfen. Was wäre da naheliegender, als eine kommunistische Überlebensstrategie zu entwickeln? Unter Einsatz der bereits vorhandenen sozialen Netzwerke. Keine Kampfstrategie, eine Überlebensstrategie, wohlgemerkt. Das Buchenwalder Funktionshäftlingssystem ist ein Beispiel dafür.

SCHLUCKAUF: Ach so, ja, jetzt begreife ich, worauf Sie hinauswollen. Die Überlebensstrategie und die Kampfstrategie schließen sich an irgendeinem Punkt aus. Und die Frage, die sich stellt, ist die folgende: Wie sind die bedingt kooperationsbereiten politischen KZ-Gefangenen, also die Funktionshäftlinge, mit Häftlingen umgegangen, die den kompromißlosen Kampf gegen die Lagerbesatzung planten?

AUFRUHR: Die Funktionshäftlinge, und das war mit Sicherheit die große Mehrheit, wären durch den Aufstand einer solchen Gruppe natürlich hochgradig gefährdet gewesen. Es hätte beispielsweise zu einem blindwütigen Schießen der Wachleute auf sämtliche Lagerinsassen kommen können. Oder zu drastischen Kollektivstrafen. Auf jeden Fall aber hätte sich der Handlungsspielraum der Funktionshäftlinge nach einem mißglückten Überfall auf die Wachmannschaften extrem verringert. Was also blieb den Funktionshäftlingen übrig, als ihre kampfbereiten, zu allem entschlossenen Mithäftlinge zu stoppen? Und wie war dies schnell und unauffällig genug möglich?

SCHLUCKAUF: Denunziation. Klar. Man flüstert einem Nazi-Wachmann etwas ins Ohr und plötzlich werden die Betreffenden abgeholt und kommen nicht mehr zurück.

AUFRUHR: Und der Nebeneffekt, sich dadurch einen Vertrauensvorschuß bei den Nazi-Wachleuten zu verschaffen, sichert zusätzlich die eigene Position.

SCHLUCKAUF: Übel. Wirklich ganz übel. Doch die Handlungslogik ist bestechend. Gibt es historisch gesicherte Belege dafür?

AUFRUHR: Nein. Es gab nach der Befreiung der Konzentrationslager ein gesinnungsübergreifendes Einverständnis, die Beweise für die Existenz solcher radikaler Bestrebungen zu vernichten. Die Funktionshäftlinge wollten nicht als Opportunisten und Denunzianten dastehen. Die SS-Wachleute wollten nicht noch mehr Haß auf sich laden als Henker neu bekanntgegebener Helden.

SCHLUCKAUF: Und bis heute hat da niemand genauer nachgefragt?

AUFRUHR: Nein. Auch von Seiten der beiden deutschen Staaten BRD und DDR gab es keinerlei Interesse an diesem Thema. Keiner der beiden Staaten wollte Leuten post mortem zu Popularität verhelfen, denen es mit der Befreiung des Menschen aus Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen tödlicher Ernst war. Beide Staaten zogen eher moderate Helden vor.

SCHLUCKAUF: Hätten nicht die Amerikaner, die viele Häftlinge befreit haben, propagandistisch Vorteile aus dem Aufdecken einer Spaltung zwischen den kommunistischen Gefangenen ziehen können? Um dem Ansehen des Kommunismus zu schaden?

AUFRUHR: Die US-Amerikaner haben zahlreiche Gespräche mit kommunistischen Häftlingen geführt und einiges über die lagerinternen Vorgänge erfahren. Der Heimatschutz soll sogar über vollständige Biografien von Widerständlern verfügen, die die anderen vom Kampf gegen die Aufseher überzeugen wollten. Aber die verwenden sie nicht zu Propagandazwecken, so nach dem Motto: Seht mal, dies sind wahre Helden, die kämpfen wollten, aber von den eigenen Genossen ans Messer geliefert worden sind. Denn solche Helden, die eine Regierung weder erpressen noch bestechen kann, werden in keinem Herrschaftssystem gefeiert. Sie werden stillschweigend bekämpft. Und irgendwann pathologisiert oder kriminalisiert.

SCHLUCKAUF: Und wozu dann das Interesse des Heimatschutzes an deren Biografien?

AUFRUHR: Um Daten zu sammeln für Persönlichkeitsprofile. Fahndungsraster für Extremisten, die ihrem schönen Staat gefährlich werden könnten. Zum Aufspüren potentieller Widerstandskämpfer. Sie erstellen Profile von Leuten, die nicht bereit sind, sich zugunsten eigener Vorteile mit Herrschaftssystemen zu arrangieren.

SCHLUCKAUF: Das paßt ziemlich gut ins Bild. Denn das Verwerten von KZ-Daten war in den USA ja ohnehin immer gang und gäbe. In der Medizin wie auch beim Militär. Da überrascht es eigentlich nicht, daß auch biografische Daten genutzt wurden.

AUFRUHR: Nein. Und es ist auch nicht überraschend, daß niemand diese Dinge an die Öffentlichkeit bringen will. Gerade die linken Parteien nicht. Aus Angst, es könnten doch noch gewisse Fragen gestellt werden -

SCHLUCKAUF: Aber wenn Sie das alles wissen, weshalb halten Sie an dem Versuch fest, dem unbeugsamen Rebellen ein Denkmal zu setzen?

AUFRUHR: Weil ich der Ansicht bin, daß gerade das verweigerte, das nicht vorhandene Denkmal genau das Denkmal ist, das zum unbeugsamen Rebellen paßt.

SCHLUCKAUF: Ach so. Genial! Durch Ihre vergebliche Mühe errichten Sie gewissermaßen ein Negativ-Denkmal. Und was entspräche den ewig und überall verschwiegenen, von niemandem gern zur Kenntnis genommenen unbeugsamen Rebellen mehr als ein Denkmal, das es nicht gibt und auch nie geben wird? Herr Aufruhr, ich wünsche Ihnen bei der Denkmalpflege weiterhin viel Erfolg und bedanke mich für dieses Gespräch.

17. Februar 2011