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BERICHT/085: Der "Ferkelbuchstreit" (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 1/08

Der "Ferkelbuch"-Streit - Vom Irrtum der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz von religiöser Identität und Emanzipation

Von Gunnar Schedel


Seit dem 6. März ist es gewissermaßen "amtlich": auch Kinder dürfen über Religion lachen, das religionskritische Kinderbuch "Wo bitte geht's zu Gott?", fragte das kleine Ferkel kommt nicht auf die Liste der jugendgefährdenden Medien. Beantragt hatte dies das Bundesfamilienministerium - mutmaßlich als "flankierende Maßnahme" zu Ursula von der Leyens Christianisierungsbestrebungen im Bereich der Jugendarbeit. Doch der Schuß ging nach hinten los, denn selten wurde über Religion im Kinderzimmer, über Religionskritik, ihre Möglichkeiten und Grenzen, so intensiv öffentlich diskutiert wie in den vergangenen Wochen. Dabei traten seltsame "Frontverläufe" zutage, die deutlich machen, daß Religion nach wie vor imstande ist, Illusionen auszulösen - und das nicht nur bei ihren erklärten Fürsprechern.

Den Stein ins Rollen brachte offenbar das Bistum Rottenburg-Stuttgart, das im Dezember Strafantrag wegen Volksverhetzung stellte;(1) unmittelbar darauf fertigte das Bundesfamilienministerium seinen Antrag an die Bundesprüfstelle für jugend-gefährdende Medien aus. Zum vorgeblich jugendgefährdenden Charakter des Buches wird darin ausgeführt, das Buch reize zum "Rassenhaß" an und sei damit "geeignet, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden".(2) Als Begründung verweist der Antrag darauf, daß die drei großen monotheistischen Religionen "verächtlich" gemacht und ihre "Besonderheiten" der Lächerlichkeit preisgegeben würden. Insbesondere treffe dies für den jüdischen Glauben zu, der als "menschenverachtend, grausam und mitleidslos" dargestellt werde. Daß "die jüdische Glaubensgemeinschaften andere Religionsgemeinschaften vernichten will", werde erkennbar aus jenem Bild, auf dem der Rabbi "einem Vertreter des christlichen Glaubens eine Schriftrolle auf den Mund drückt und ihn zu ersticken droht".

Daß eine derartige Argumentation nicht sonderlich überzeugte, zeigte sich sehr schnell nach Bekanntwerden des Indizierungsantrages. Selbst jene Medien, die das Buch ablehnten, schüttelten den Kopf über das Familienministerium.(3) Der Generalsekretär des Zentralrates des Juden Stephan J. Kramer wollte der Meinung, das Buch sei antisemitisch, ebenfalls nicht folgen, "da es gleichermaßen alle drei großen monotheistischen Religionen verleumdet"; nach der Entscheidung der Bundesprüfstelle sprach Kramer sogar davon, daß eine "Indizierung auf der Schiene des Antisemitismus ... die Diskussion verfälscht" hätte.(4) Der Publizist Henryk M. Broder fand den Indizierungsantrag samt Begründung schlicht lächerlich.(5) Am Ende wurden Antisemitismus-Vorwurf und Stürmer-Vergleich fast nur noch von Vertretern der beiden großen christlichen Kirchen aufrecht erhalten.(6)

So scheint der "Ferkelbuchstreit" vom Ende her betrachtet eine säkulare Erfolgsgeschichte zu sein: das erste explizit religionskritische Kinderbuch seit langer Zeit bleibt nicht nur lieferbar, es hat durch den unvorstellbaren Medienrummel auch eine Verbreitung gefunden, die kaum vorhersehbar war, denn mittlerweile sind fast 25.000 Exemplare verkauft. Der Antisemitismus-Vorwurf, der durchaus auch darauf abzielte, Autor und Verlag insbesondere im linken und liberalen gesellschaftlichen Spektrum nachhaltig zu diskreditieren, konnte abgewehrt werden, die Klerikalen schäumten vor Wut und forderten nach dem "Freispruch" am 6. März endlich offen, was sie ehrlicherweise schon zu Beginn der Auseinandersetzung hätten formulieren müssen: "Das Verletzen religiöser Gefühle kann ab einer bestimmten Qualität sehr wohl kinder- und jugendgefährdend sein." Denn dadurch, so der katholische Religionspädagoge Albert Biesinger weiter, könnten christliche Kinder unter "einen erheblichen Rechtfertigungsdruck" gesetzt werden. Deshalb müsse der Gesetzgeber "die Kriterien für Entscheidungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien überdenken".(7) Auch andere Religionsfunktionäre sprachen ihren Wunsch nach Zensur mehr oder weniger offen aus und übten sich in praktischen Vorschlägen, wie es beim nächsten Mal besser klappen könnte.(8) Aber so eindeutig ist der "Frontverlauf" in der Debatte nicht und in einem zentralen Punkt ist es noch nicht gelungen, die Diskurshoheit zu erringen.

Daß Verlag, Autor und Zeichner die Auseinandersetzung auf die leichte Schulter genommen hätten, läßt sich nicht behaupten; in einer 68seitigen Verteidigungsschrift (9) legen sie ihre Argumente dar und entkräften nicht nur die dünnbrüstige Begründung des Indizierungsantrages sondern auch zahlreiche weitere Vorwürfe, die in den Medien erhoben worden sind. Ein Kommentar, der das Buch Seite für Seite erläutert und zeigt, daß es neben der Kinderebene auch eine Lesart für Erwachsene gibt, strafte all jene Lügen, die das "Ferkelbuch" als platt und dümmlich etikettiert hatten. Auch viele Medienvertreter fanden die in den Materialien vorgetragenen Argumente überzeugender als die Kritik am "Ferkelbuch", so daß sich im Laufe des Februar zunehmend mehr Stimmen zu Wort meldeten, die dem Buch einen aufklärerischen Wert zusprachen.(10)


Unfaire Angriffe

Auffällig ist, daß die Angriffe auf das Buch und vor allem den Autor teilweise ausgesprochen unfair geführt wurden. Ohne jede sachliche Grundlage wurden Vorwürfe erhoben, deren einziges Ziel ganz offenbar in der Beschädigung von Michael Schmidt-Salomon als dem Religionskritiker mit der derzeit größten Medienresonanz war. An die Spitze der Bewegung hatte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) gestellt - wie so häufig, wenn es um Religion geht.(11) Lorenz Jäger begnügte sich nicht damit, das Buch als "banal" und "niedrig" zu brandmarken, in seinem Eifer stellte er die Giordano Bruno Stiftung, deren Sprecher der Autor des Buches ist, auf eine Stufe mit Scientology. Sein Kollege Thomas Thiel sah sich sogar bemüßigt, am 5. März - also einen Tag vor der Verhandlung vor der Bundesprüfstelle - zu einem anderen Anlaß in einem Nebensatz zu behaupten, das Buch sei bereits "auf dem Index der Bundesprüfstelle" gelandet (ob dahinter Bosheit, Dummheit oder Gottvertrauen steckte, sei dahingestellt).(12) Auch der Journalist Ulrich W. Sahm nahm es mit der Recherche nicht so genau, als er in einem auf ntv.de veröffentlichten Beitrag über das "Ferkelbuch" meinte, die "Formulierung 'Menschen vernichten'" sei "der Nazisprache" entlehnt und insofern handele es sich um eine "vielleicht gar antisemitisch angehauchte Darstellung".(13) Mal abgesehen davon, daß die behauptete Formulierung in dieser Form im Buch gar nicht vorkommt, hätte Sahm bekannt sein müssen, daß die Nationalsozialisten ihre Verbrechen mit euphemisierenden Begriffen beschrieben haben. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde als "Endlösung der Judenfrage" kommuniziert; den Status des Menschlichen haben Hitlers willige Vollstrecker ihren Opfern in der Regel ausdrücklich abgesprochen. Mit wenig Aufwand hätte Sahm herausfinden können, was tatsächlich die Quellen waren, aus denen Schmidt-Salomon seine Formulierungen, in denen er die Sintflutgeschichte erzählt, entlehnt hat: Kinderbibeln.

Doch auch Zeitungen, die sich an ein liberales Publikum richten, konnten dem Buch wenig abgewinnen. Alex Rühle fand die Lektüre "trostloser als ein[enl Spaziergang über zubetonierte nordkoreanische Freiflächen, altes plan und platt", und fühlte sich von der Darstellung des Rabbis an "Karikaturen aus den dreißiger Jahren" erinnert (eines der untrüglichen Merkmale: der Rabbi hat "Hände wie Pranken"). Primitiv, fundamentalistisch, unterkomplex sind die Adjektive, die dem Autor der Süddeutschen Zeitung im Zusammenhang mit dem Kinderbuch einfallen.(14) Die Online-Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit positionierte sich deutlich differenzierter, doch auch Jan Free schätzte das "Ferkelbuch" als "eine humorlose Polemik mit ansprechenden Illustrationen und schlichtem ideologischen Hintergrund" ein und den Autor als "selbstgerechten und eindimensionalen Religionshasser".(15)

Ähnlich kritisch bewertete auch Rüdiger Haude Buch und Autor (allerdings in deutlich freundlicherem Vokabular). Es greife zu kurz, die Vernunft gegen die Religion in Stellung zu bringen; denn dadurch würden einerseits die Ambivalenz der Wissenschaft verschwiegen und andererseits die herrschaftskritischen Ansätze der Religionen - Haude verweist auf die Jotham-Fabel im Alten Testament, Richter 9, 8-15 - übersehen.(16) Der ausführliche Beitrag in der Graswurzelrevolution ist nicht der einzige in einer linken Zeitschrift erschienene Artikel, der die im "Ferkelbuch" gepflegte Religionskritik defizitär findet. Peter Bierl ist einer der wenigen, der den Antisemitismus-Vorwurf im Raum stehen ließ und die Auffassung vertrat, das Buch lehre Kinder, "daß Juden böse, jähzornige Menschen sind, die Kinder umbringen, wenn sie nicht gehorchen". Der Autor Michael Schmidt-Salomon stehe für eine "Religionskritik, die eine faschistoide Tradition aufnimmt".(17)

Selbst im säkularen Lager fand das "Ferkelbuch" keine uneingeschränkte Zustimmung. Einigkeit herrschte darin, daß das Buch nicht indiziert werden dürfe und daß Religionskritik auch im Kinderzimmer möglich sein müsse. Immerhin 22 Verbände aus dem deutschsprachigen Raum hatten eine auf Initiative des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) zustande gekommene gemeinsame Erklärung unterzeichnet, in der der Indizierungsantrag als "weltanschauliche Zensur" und Verstoß des Familienministeriums gegen die ihm als staatlicher Institution gebotene Neutralität kritisiert wurde.(18) Der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) hatte den Text ebenso wenig unterzeichnet wie der Dachverband freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW), doch beide versicherten in eigenen Stellungnahmen ihre "kritische Solidarität".(19) Inhaltlich waren hingegen viele um Abgrenzung bemüht. Horst Groschopp (HVD) störte die "radikale Art der Religionskritik", Anna Bartholomé sah im Freidenker durch die Art der bildlichen Darstellung "in provokativer und überheblicher Weise die religiösen Gefühle vieler Menschen" verletzt.(20)

Auch wenn Haßtiraden, Polemik und Unsinn (21) abgezogen werden, bleibt ein ganzer Strauß an kritischen Anregungen; diese jedoch lassen sich zwei großen Themenbereichen zuordnen. Ein Einwand von sachlichem Gehalt, auf den die "Ferkelbuch"-Macher eine Antwort finden müssen, ist die Frage nach der Darstellung des Judentums. Ist die Szene, als der Rabbi Ferkel und Igel nicht in den "Tempel" bittet, nur im Sinne des Autors zu verstehen (das Judentum bittet - im Gegensatz zu Christentum und Islam - niemanden einzutreten, soll heißen: es missioniert nicht) oder kann sie mißverstanden werden und antijudaistisehe Ressentiments bedienen (seit dem Mittelalter arbeiteten zum Beispiel Ritualmordlegenden mit der Behauptung, Juden würden niemanden in ihre Synagoge hinein lassen, damit nicht herauskomme, was sie da so trieben)? Ist es nicht ein Blick auf das Judentum aus christlicher Perspektive, wenn am Alten Testament der strafende Gott in den Vordergrund der Betrachtung gerückt wird? Ist es aus religionskritiseher Sicht angemessen, das Judentum zu repräsentieren, obwohl dessen ultraorthodoxe Fraktion außerhalb von Israel keine Rolle spielt und auch dort die Gesellschaft nicht prägt, zugleich aber die Evangelikalen, die weltweit auf dem Vormarsch sind, wegzulassen? Es geht also darum, ob Autor und Illustrator diese drei Doppelseiten grundsätzlich oder im Detail hätten anders gestalten können oder müssen, um ihr Ziel, die religionskritische Aufklärung von Kindern, zweifelsfrei zu erreichen.


Respekt und Toleranz

Der zweite Fragenkomplex betrifft Überlegungen, ob es richtig sei, die Religionen auf einen fundamentalistisehen Kern zu reduzieren, obwohl zahlreiche Gläubige an eine Religion in dieser Form gar nicht glauben; ob nicht die Darstellung des Rabbis oder auch der tobenden Moscheebesucher antisemitisch oder rassistisch wirkten; ob die satirisch überspitzte Kritik von Kindern überhaupt verstanden werden könne oder nicht vielleicht dazu führe, daß religiöse Kinder fortan von nichtreligiösen diskriminiert würdeti. Vorgeworfen wurde dem "Ferkelbuch" also einerseits, was auch gegen die diskursiven Schriften des neuen Atheismus angeführt wurde: die Eindeutigkeit der Kritik, die Behauptung, das grundlegende Problem seien die Basistexte der Religion und nicht die Interpretationen. Und andererseits, daß es einen "Rechtfertigungsdruck" für Anhänger der betreffenden Religion aufbaue. Diese Aspekte weisen jedoch weit über den "Ferkelbuchstreit" hinaus und verdeutlichen abermals, daß es derzeit im säkularen Lager keine Einigkeit darüber gibt, was die Ziele von Religionskritik sind und wie sie gesellschaftlich wirkt. Die Freidenkerin Anna Bartholomé schreibt, es sei "immer schon ein Freidenker-Anliegen" gewesen, Kinder zum "respektvoll-sachlichen Umgang mit Menschen anderer Überzeugung zu befähigen" - und bedient sich dabei desselben Vokabulars wie die Union, die in einer Pressemitteilung "das Recht der Religionsgemeinschaften und Gläubigen auf Respekt" einforderte.(22) Aber können die Gläubigen allen Ernstes "Respekt" - das Duden Fremdwörterbuch übersetzt den Begriff mit "Ehrerbietung, schuldige Achtung" - von ihren Kritikern verlangen? Ich denke, hier liegt der erste Denkfehler all jener, die dem "Ferkelbuch" vorgeworfen haben, in seiner Kritik zu harsch zu sein: religiöse Auffassungen müssen in einer pluralistischen Gesellschaft toleriert werden, aber niemand sollte sich verpflichtet fühlen, sie zu achten. Und auch die Gläubigen können "Respekt" nur für ihre Taten reklamieren - sofern diese denn respektabel sind. Hier endet gewissermaßen fürs erste die Religionskritik: wenn Verhältnisse, die den Menschen ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen sein lassen, umgeworfen werden, wenn sich Menschen verhalten, als sei der Mensch das höchste Wesen für den Menschen, dann ist es erst einmal zweitrangig, aus welcher Motivation sie dies tun. Wenn dieses von Karl Marx (23) formulierte Ziel der Religionskritik eingelöst wird, tun auch Religinnskritiker gut daran, diese Taten anzuerkennen. Doch so weit geht die Geschichte von Ferkel und Igel nicht; sie begegnen der Religion in Gestalt einiger Kernaussagen, diese behagen ihnen nicht und so entscheiden die beiden, daß es für alle Seiten wohl besser ist, zukünftig nichts miteinander zu tun zu haben. Das ist vorbildliche Toleranz, die aus der Einsicht erwächst, daß die Gemeinsamkeiten so gering sind, daß ein Miteinander zu dauernden Konflikten führen könnte.

Im Alltag freilich ist die Welt nicht ganz so einfach strukturiert wie in einem 4Oseitigen Kinderbuch. Eine weitgehende Trennung der Sphären der unterschiedlichen weltanschaulichen Milieus, "Versäulung" genannt, ist ein gesellschaftliches Modell des 19. Jahrhunderts. In einer pluralistischen Gesellschaft scheint es kaum möglich, sich aus dem Weg zu gehen. Hier stellt sich eher die Frage der kulturellen Hegemonie - und welche Rolle die Religion in dieser Auseinandersetzung spielt. Denn mit der Anerkennung gläubiger Menschen um ihrer Taten willen ist die Religionskritik nicht an ihr Ende gekommen, sie hält nur inne. Der Respekt vor einer auf den ersten Blick religiös motivierten Handlung trägt nämlich nur dem (oder der) Gläubigen, nicht aber zwangsläufig auch der dahinterstehenden Religion Pluspunkte ein. So kann die Motivation problematisiert (Stichwort: Heilsegoismus) oder der kausale Zusammenhang bestritten werden: die Tat erfolgte, nicht weil jemand einer bestimmten Religion anhängt, sondern obwohl dies der Fall ist. Allgemeiner formuliert stellt sich die Frage, ob der Glaube an jenseitige Mächte sich letztlich nicht als hinderlich erweist, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf, also das Jammertal als veränderbar zu begreifen. Hier liegt in meinen Augen der zweite Denkfehler vieler Kritiker des "Ferkelbuches". Die Vorstellung einer dauerhaften friedlichen Koexistenz von religiöser Identität und Emanzipation erscheint mir illusorisch. Der Religionspädagoge Biesinger hat durchaus recht: die Aufforderung zur Emanzipation baut bei den Angesprochenen einen "Rechtfertigungsdruck" auf, sie sehen sich gezwungen, ihr Bekenntnis zu reflektieren und zu begründen. Was ihn beunruhigt, dürfte allerdings weniger in der Situation an sich zu suchen sein (denn es gehört zu unseren normalen Erfahrungen, eigene Positionen aufgrund von Kritik zu hinterfragen); er fürchtet wohl eher, daß die Gläubigen in Begründungsschwierigkeiten geraten und in der Folge ihre religiöse Identität aufgeben könnten.

Daß ein katholischer Religionspädagoge hierin keinen Schritt der Emanzipation sehen kann, mag nachvollziehbar sein; warum aber Autoren aus dem säkularen Lager Religionskritik mit Rassismus und Antisemitismus verwechseln, ist schwer erklärbar. Besteht doch der grundlegende Unterschied darin, daß Religionskritik das Individuum in den Stand versetzen soll, sich von einer falschen kollektiven Identität zu befreien und nach seinen tatsächlichen Interessen zu suchen, während das Individuum im rassistisehen Diskurs einer Gruppe unabänderlich zugewiesen wird. Ein Bekenntnis kann der Mensch wechseln, seine Hautfarbe oder Herkunft nicht. Insofern zielt Religionskritik auf Veränderung ab, während Rassismus einen vermeintlichen Status quo festschreiben will. Zwar kann sich Rassismus religionskritisch maskieren, aber es gibt eine Gretchenfrage, die dies schlagartig zutage treten läßt: kann das Individuum selbst frei entscheiden, welcher Gemeinschaft es zugehören möchte, oder nicht? In der Antwort auf diese Frage liegt der Unterschied zwischen Emanzipation und Ausgrenzung begründet.

Marx hat schlampig formuliert oder die Wirkmacht von Religion unterschätzt, wenn er schreibt, daß die Kritik des Himmels sich in die Kritik der Erde verwandele; letztere tritt vielmehr neben sie, denn beide Prozesse laufen parallel zueinander ab und sind aufeinander bezogen. Das Bemühen, den Menschen als das höchste Wesen für den Menschen zu begreifen und alles Handeln danach auszurichten, muß flankiert sein von der Verbreitung der Erkenntnis, daß das illusorische Glück tatsächlich ein nur illusorisches ist. Gerade wenn Religionskritik mehr sein soll als philosophische Fingerübung, wenn sie das gute Leben im Diesseits vorbereiten soll, muß sie Illusion als solche benennen. Daß sie dabei religiöse Identitäten in Frage stellt und oft auch zerstört, ist eine unvermeidliche Folge und vielleicht auch der Preis der Emanzipation.


Anmerkungen:

(1) vgl. http://hpd-online.de/node/3787.

(2) Indizierungssntrag nach dem Jugendschutzgesetz vom 21.12.2007. Der Antrag kann unter www.ferkelbuch.de, Fakten, heruntergeladen werden.

(3) Zum Beispiel: Mareike Fallet: Jugendgefährdend - oder einfach nur daneben? In: Chrismon 3/2008, S. 11.

(4) http://www.zentralratdjnden.de/de/article/1536.html (Zugriff 3.2.2008);
http://www.wlz-fz.de/newsroom/kultur/zentral/kultur/artl8O,543049 (Zugriff 29.3.2008)

(5) "Versuch, das Kinderbuch 'Wo bitte gehts zu Gott?' zu verbieten, ist lächerlich!", Interview auf Deutschlandradio Kultur, 8.2.2008.

(6) vgl. etwa das KNA-Interview mit Albert Biesinger. Der katholische Religionspädagoge hatte 2006 gemeinsam mit Ursula von der Leyen das Buch Bündnis für Erziehung herausgegeben.
http://www.domradio.com/default.asp?ID=38212 (Zugriff 28.3.2008)
Ausnahmen waren etwa der Artikel von Katrin Diehl in der Jüdischen Allgemeinen (7.2.2008) oder der Beitrag von Peter Bierl im Rechten Rand

(7) http://www.mediaculture-online.de/Details.305+M5cec426320f.0.html (Zugriff 29.3.2008)

(8) http://www.domradio.com/aktuell/artikel_39082.html (Zugriff 8.3.2008).
In einem Kommentar bemängelte dort Hans Reinhard Seeliger (der seinerzeit einen kritischen Band zu Karlheinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums herausgegeben hatte, dessen Cover ein Bild des brennenden Savonarola zierte), daß der Indizierungsantrag nicht zusammen mit dem Zentralrat der Juden und muslimischen Vertretern vorbereitet worden sei.

(9) Als Download unter www.ferkelbuch.de erhältlich.

(10) Christian Schlüter: Ferkelei mit der Religion, in: Frankfurter Rundschau vom 5.3.2008; Beda M. Stadler: Gefährliche Ferkeleien, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9.3.2008

(11) zum diesbezüglichen Qualitätsjournalismus aus Frankfurt vgl. auch MIZ 3/99, S. 14f.

(12) Lorenz Jäger: Erst Sündenabschaffung, dann Paradieseswonnen, in: FAZ vom 4.2.2008; Thomas Thiel in: FAZ vom S.3.2008.

(13) Ulrich W. Sahm: Von Schweinen, Igeln und Religionen, in:
http://www.n-tv.de/916662.html (Zugriff 25.2.2008); in leicht abgeänderter Form auch im Feuilleton der NRZ vom 11.2.2008 veröffentlicht.

(14) Alex Rühle: Der hässliche Rabbi, in: Süddeutsche Zeitung vom 31.1.2008

(15) Jan Free: Gottlose Tiere, in:
http://www.zeit.de/online/2008/06/kinderbuch-religion (Zugriff 3.2.2008)

(16) Rüdiger Haude: Die Frage "Welche Vernunft?", in:
Graswurzelrevolution, April 2008, S. 3

(17) Peter Bierl: Von Schuld & Sühne, in: Der Rechte Rand 111 (März/April 2008), S. 23f.

(18) http://hpd-online.de/node/3773

(19) http://hpd-online.de/node/3767 und http://hpd-online.de/node/3827.
Der Vorsitzende des HVD Horst Groschopp hatte zunächst erklärt, was den Antisemitismus-Vorwurf angehe, warte sein Verband ab, wie sich der Zentralrat der Juden in Deutschland hier positioniere. Kurz vor dem Termin bei der Bundesprüfstelle forderte der HVD dann doch einen "Freispruch erster Klasse".

(20) Anna Bartholomé: Familienministerium will religionskritisches Kinderbuch verbieten, in: Freidenker 1/2008, S. 57f.

(21) Das Wortspiel mit der "atheistischen Sau" ließen sich die anonymen Beiträger in christlich-fundamentalistischen Foren natürlich nicht entgehen. Aber auch Autoren, die sich wahrscheinlich selbst als fortschrittlich einstufen, waren um Peinlichkeiten bemüht. "In der Moderne hingegen ist der Skeptiker der Empörer, der in Pose angeblich alles anzweifelt, der die Negation des Endlichen gegen einen Naturalismus eingetauscht hat und den es - die Beispiele von Max Stirner an zeigen es - immer wieder zum Faschismus drängt." (Fabian Kettner: Die Antiklerikalen treiben mal wieder eine Sau durchs Dorf, in:
http://www.literatur-kritik.de/public/rezension.php?rez_id=11804, Zugriff 29.3.2008)
Natürlich gab es auch im engeren Sinn religiös motivierte Kritik, die von der Wahrheit der heiligen Schriften ausging; da diese Auffassungen für eine Reflexion des säkularen Standpunktes nicht von Belang sind, werden sie hier nicht erörtert.

(22) Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 6.3.2008

(23) Alle betreffenden Textstellen sind der Einleitung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie entnommen. Der Verzicht auf die Ausweisung der Zitate durch Anführungszeichen mag dazu anregen, diesen zentralen Text emanzipatorischer Religionskritik in voller Länge zu lesen (und der autoritäre Genosse Marx wird's mir verzeihen).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Original-Publikation:

Die Rauferei zwischen den drei Religionsvertretern - für das Bundesfamilienministerium ein Beweis dafür, daß das religiöse Judentum "andere Religionsgemeinschaften vernichten" wolle. Eine wenig überzeugende Argumentation fanden die allermeisten Medien. Die Zeit kommentierte spöttisch: "Auch ein Bischof kann notfalls durch die Nase atmen."

"Hände wie Pranken" - ein Kennzeichnen für antisemitische Karikaturen aus den dreißiger Jahren meint SZ-Autor Alex Rühle. Ein Blick ins Archiv würde ihn Lügen strafen.

Ferkels und Igels Erkenntnis nach ihrem Besuch auf dem Tempelberg: "Wer Gott kennt, dem fehlt etwas!" Auch in der säkularen Szene herrschte keine Einigkeit darüber, ob das "Ferkelbuch" Ausdruck frechen Selbstbewußtseins oder überheblicher Respektlosigkeit ist.


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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 1/08, S. 8-14, 37. Jahrgang
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Postfach 1745, 58017 Hagen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2008