Warum Krieg?
Chancen für eine Weltfriedensordnung
Von Manfred Lotze, März 2016 [1]
Wir lesen täglich wie, wo und warum Kriege geführt werden. Unsere Emotionen gehen aber tiefer als Informationen. Sie schwanken zwischen Resignation und Hoffnung auf eine Zukunft ohne Kriege. Auch im Geiste der IPPNW-Oktober-Konferenz "Unser Rezept für Frieden: Prävention" versuche ich zu belegen, dass die Hoffnung auf eine globale Friedenskultur realistisch ist. Die These, dass Kriege zur menschlichen Natur gehören, ist so verbreitet wie widerlegbar.
Vielfältige Erklärungen bietet die menschliche Geschichte:
weil in Staaten organisierte Menschen mit anderen um die Macht
konkurrieren (s. Anmerkung [2]),
weil der militärisch-industrielle Komplex gewaltfreie
diplomatische Konfliktbearbeitungen nach demokratischen Regeln, die in
der UNO-Charta und den meisten staatlichen Verfassungen festgelegt
sind, verdrängt hat,
weil "gerechte" Kriege zum Sieg über "das Böse" führen ("Es
kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar
nicht gefällt." ),
weil zur Natur des Menschen Entwicklung und Überleben durch
Kampf gehören ("Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die
einen [...] lässt er Sklaven werden, die anderen Freie."
Heraklit),
weil Antiterror-, Low Intensity Conflicts, asymmetrische
Kriege, Interventions-, Stellvertreter-Kriege auch als Bürgerkriege
instrumentalisiert werden,
und weil meist unter religiöser Flagge laufende Kombinationen
der genannten Motive die Verwirrung vergrößern.
Zur Definition von Kriegen:
Volksaufstände gegen eine Diktatur (Cuba 1959 z. B.) und alle
Dekolonisierungskämpfe als Akte der Selbstbefreiung sowie
Militärputsche gegen gewählte Regierungen (Griechenland 1967, Chile
1973 u. a.) sind gewaltsame Konfliktbearbeitungen, aber keine Kriege
im engeren Sinn, sondern als "Anwendung bewaffneter Gewalt" (Art. III
der Genfer Fünf-Mächte-Vereinbarung 1932) zu definieren.
Dies mögen inhaltlich und formal ungenügende Erklärungen sein, aber eine Konsequenz ist schon zu ziehen: Krieg ist auch für Pazifisten nachvollziehbar, solange es ausgebeutete, kolonialisierte Völker gibt und solange die moralischen Kategorien von Gut und Böse zu politischen Entscheidungen über Militärhaushalte führen. So kam Ekkehart Krippendorff "notwendig auf den eigentlichen Gegenstand der Kriegsfrage, nämlich die militärisch, d. h. aus Gewalt entstandene und mit monopolisierter Gewalt gesicherte Herrschaft, DEN STAAT". (E. Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Suhrkamp 1985)
Mohssen Massarat mahnt eine weltweite Kampagne zur Ächtung der Waffenproduktion an, denn "der militärisch-industrielle Komplex ist die größte Bedrohung für den Weltfrieden unserer Zeit." (M. Massarrat bei NachDenkSeiten 21.10.15)
In der Verantwortung stehen aber nicht nur die gerüsteten
Regierungen. Sie brauchen kriegsbereite Bürger. Damit sind wir beim
nächsten Themenzusammenhang: der Konflikt zwischen einer Kultur des
Friedens und der herrschenden Kultur des Krieges. Der oberste
Repräsentant unseres Staates hat den Wechsel von einer Kultur der
Zurückhaltung zu einer 'Kultur der Kriegsfähigkeit' (Josef Joffe), und
damit den Wechsel von einer Kultur der Werte zu einer Kultur der
Interessen propagiert, so Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz
2014. Eine Konferenz über "strategische Kommunikation" mit
"Empfehlungen" für die "Erziehung der Öffentlichkeit" im Sinne der
NATO wird angekündigt auch mit dem Ziel, dass die NATO die für sie
entscheidende "Unterstützung" durch die Bevölkerungen ihrer
Mitgliedsstaaten nicht einbüße. PR-Strategien gegen "starke
pazifistische Haltungen" besonders in Deutschland werden intensiviert
(Quelle: www.german-foreign-policy.com Informationskrieg 28.10.2015)
Die natürliche Fähigkeit des Menschen zur Aggression und Destruktivität ist von der Bibel bis zu den Schriften von Erich Fromm belegt. Menschliche Aggressionen werden unterschiedlich interpretiert und auch massenpsychologisch instrumentalisiert. Um gegenseitige Vernichtung als gute oder unumgängliche Taten zu propagieren, bedarf es fundamentaler Feindbilder. Domenico Losurdo erklärt die Dichotomie Freund/Feind mit dem Prozess der Despezifikation, die mit der Dichotomie Zivilisation/Barbarei zusammenfalle (in "Kampf um die Geschichte" PapyRossa 2007).
Auf der Friedenskonferenz im Februar 2015 in München parallel
zur sog. Sicherheitskonferenz sprach Prof. Dr. Joachim Bauer über
"Gewalt ist kein Naturgesetz - menschliche Aggression und
Friedenskompetenz aus der Sicht der Hirnforschung". Gibt es den
Aggressionstrieb, den Sigmund Freud postuliert? Freud hatte Albert
Einstein in einem Brief mitgeteilt: "Wir glauben an die Existenz eines
Triebes zum Hassen und Vernichten". Krieg erscheint hier also als eine
biologische Bedingung. "Der Krieg ist nicht wider die menschliche
Natur, sondern er entspringt ihr" schrieb Eckhard Fuhr in Die
Welt am 7. Juni 2014 Das hatten schon Konrad Lorenz und sogar
Erich Fromm gelehrt. Neurobiologische Forschungen dagegen kommen zu
anderen Ergebnissen. Bauer klärte darüber auf, dass unsere Handlungen
und Motive durch ein neuronales Belohnungssystem über Ausschüttung von
"Wohlfühlbotenstoffen" gesteuert werden, das zu guten Gefühlen führt.
Aktiviert werde dieses Motivationssystem durch soziale Erfahrungen mit
Akzeptanz durch Zuwendungen. Nur das erzeuge gute Gefühle. Wir seien
süchtig nach Zuwendung, nach sozialer Verbundenheit und gegenseitiger
Hilfe. Weitere Systemaktivierungen gebe es durch Bewegung (man
beobachte nur die Bewegungsfreude der Kinder!) und durch Musik, hier
besonders durch Singen. Für 95-97 Prozent der Menschen sei
Aggressivität nicht lohnend. Männliche Gewalttätigkeit sei eine
psychische Krankheit.
Übrigens sei auch für Charles Darwin Aggression kein Trieb.
Doch es gebe eine Kehrseite dieser positiven Hirnfunktion: Böses zu
tun, um zugehörig zu sein. Die suchtartige Abhängigkeit von
oberflächlicher Anerkennung im Internet sei noch ein relativ
harmloses, so gesteuertes Verhalten. Outgroups contra
Ingroups-Erlebnisse erzeugten ein Gemeinschaftsgefühl zum Beispiel
durch Hass auf Ausländer, Juden, Linke oder Schwule. So bestätige auch
die Hirnforschung wie wichtig gerade für Jugendliche die Erfahrungen
von Zugehörigkeit seien. Ein zuverlässiger Stimulus für Aggression sei
Schmerz. Seine Zufügung mache wütend. Bei Demütigung und sozialer
Ausgrenzung reagiere im Gehirn die identische Schmerzmatrix. Das
erkläre sich aus unserer Stammesgeschichte, da einst soziale
Ausgrenzung zum Tod führte. Empathiesysteme reagierten auch beim
Zusehen, wenn anderen Schmerzen zugefügt werden. Auf weltweit
verbreitete Folterungen wie in Abu Graib oder in Guantanamo ging Bauer
nur kurz ein. Verwiesen sei auf seine Bücher "Schmerzgrenze" und
"Prinzip Menschlichkeit". Auch wer in Armut unter Reichen lebe, sei
ausgegrenzt. Angesichts der globalen Ungerechtigkeit zeige sich eine
gewisse Toleranz. Doch wenn eine Grenze überschritten werde, wachse
auch gesellschaftliche Gewalt. Mit dem Gini-Index der
Ungleichverteilungen würden sich diese Zusammenhänge darstellen
lassen. Die stammesgeschichtlich kommunikative Funktion von Aggression
wird in einer Kultur des Krieges, der Konkurrenz und der
Fremdsteuerung verfehlt.
Durch Dehumanisierung des Widersachers.
Weitere Gewaltquellen seien soziale Polarisierungen durch Moral und
durch Patriarchat. Den Religionen, die Andersgläubige unmoralisch
aussehen lassen, stünden allgemein anerkannte ethische Normen
entgegen.
Gegenpole bilden laut Bauer Bindung und Bildung, eine Erziehung zur
Einhaltung sozialer Regeln sowie Gerechtigkeit.
So hilfreich diese neurophysiologischen Erkenntnisse für unsere
Friedenspolitik sind, so hart sind wir in der Realität mit weiteren
Hindernissen konfrontiert.
Bausteine fand ich beim Philosophen Michael Schmidt-Salomon. Seine Analyse in "Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind" (Piper, 4. Auflage 2014) provoziert gerade uns, die wir von Politikern und Militärs moralische Normen einfordern - in der Regel vergeblich. Wir entlarven Kriegslügen, vorgeblich humanitäre Ziele angesichts millionenfachen Mordens. Sind die Verantwortlichen für Drohneneinsätze, Folter und Atomkriegsdrohungen etwa nicht unmoralisch zu nennen?
Der Autor begründet sein Nein mit historischen, religiösen, anthropologischen und philosophischen Argumenten. Er will "die Menschen von der Tyrannei philosophischer Obskuranten" und abstrakter Begriffe wie "Wahrheit", "Moral", "Realität" oder "Objektivität" befreien. Diese Begriffe engen den Horizont der Menschen und die Möglichkeiten des Daseins ein. (Nach Paul Feyerabend "Zeitverschwendung" Suhrkamp 1995)
Der Inhalt beginnt mit der "Geschichte von Eva und dem Apfel, der keiner war - Das Sündenfall-Syndrom" und behandelt weiter "Abschied von Gut und Böse", "Abschied von der Willensfreiheit", "Falsche Konsequenzen" bis zu "Die menschliche Solidargemeinschaft". Nur ein Textbeispiel zur überaus wertgeschätzten Rolle von Schuldgefühlen in unserer Kultur: "Die Differenz zwischen Schuld und Reue korrespondiert mit der Unterscheidung zwischen Moral und Ethik. [...] Reuegefühle sind ein wichtiger Anstoßgeber für die persönliche Weiterentwicklung, Schuldgefühle hingegen stehen ihr im Wege [...] Da Schuldgefühle Kriegserklärungen an das eigene Selbst sind, zerstören sie jenen inneren Frieden, der notwendig für eine gesunde psychische Entwicklung ist."
Terroristen wie staatliche Kriegstreiber haben sicher keine freie Entscheidung zum "Bösen" getroffen, sondern sind gefangen in ihren Wurzeln aus Natur und Kultur, das "Gute" in ihrem Sinn zu tun. "Man darf keineswegs den gleichen Fehler machen, den die Terroristen begehen, nämlich sich in moralischer Selbstgefälligkeit über die ganze Welt zu erheben, den Gegner im Sinne eines archaischen Ingroup-Outgroup-Denkens zu dämonisieren und dadurch jegliche Empathie ihm gegenüber zu verlieren." Die Konsequenz wäre Rache oder sog. "humanitäre Intervention". Empathievermögen wird auch durch die Unterstellung von Willensfreiheit untergraben. Je stärker die Idee der Willensfreiheit in westlichen Gesellschaften etabliert sei, desto eher würde soziale Ungleichheit toleriert und desto drakonischer fallen auch die Strafmaßnahmen des jeweiligen Rechtssystems aus.
Ganz im Sinne von Schmidt-Salomon erscheint mir das Zitat des Dalai Lama: "Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotenzial in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen. Menschliche Entwicklung beruht auf Kooperation, nicht auf Wettbewerb."
"Der Vorteil einer philosophischen Weltanschauung gegenüber einer Religion besteht darin, dass sie es uns ermöglicht, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen" (Schmidt-Salomon). Die anthropologische Verbindung zwischen den neurophysiologischen Erkenntnissen über menschliche Aggressionen und dem ethisch begründeten "Abschied von Gut und Böse" zeigt die Chancen auf, die im Verzicht auf Feindbilder und in der Förderung aller kooperativen Kräfte liegen. Darin kann die Wurzel für einen zivilisatorischen Epochenwechsel zu liegen. Die Meinungsführerschaft für eine globale Friedenspolitik ist keinesfalls zu gewinnen nur mit Abarbeitung an Symptomen.
Die Denkanstöße von Schmidt-Salomon für eine Friedensbewegung mit langem Atem und "brennender Geduld lassen sich zusammenführen mit den zitierten medizinischen, sozialpolitischen und historischen Erkenntnissen, nicht zuletzt auch mit völkerrechtlichen, wie den zahlreichen Beiträgen von Norman Paech, zuletzt über "70 Jahre UNO-Charta - Ohne Macht und ohne Alternative", in dem er die Diskrepanz zwischen einem vorherrschenden Völkerrechtsnihilismus und der Suche nach der Weltfriedensordnung aufzeigt (in junge Welt 26.6.2015). Die IPPNW versucht unermüdlich auch mit Kongressen zur Kultur des Friedens und im Oktober 2015 mit der Konferenz "Unser Rezept für Frieden: Prävention" der militärischen Staatsräson eine breite Bewusstseinsänderung mit demokratischen Meinungsbildern entgegen zu stellen. Sie ist dabei offen für Anregungen aus allen kulturellen Richtungen. Auf diesen breiten Ansatz wies auch Arno Gruen hin: "Es sind die Kulturen, nicht zuletzt die westlichen, die Selbstverrat und Hass hervorbringen."
[1] Eine Kurzfassung des Beitrags erschien in der Beilage "IPPNWintern" zum IPPNWforum Nr. 145 / März 2016.
[2] Kriege gab es erst, nachdem die Menschheit schon etwa 95% ihrer
Entwicklung hinter sich hatte. Voraussetzung war Sesshaftigkeit nach
Übergang von der Jäger- und Sammlerperiode auf Ackerbau und Viehzucht
ab dem 12. Jahrtausend v. Chr., dem die Gründung von Städten mit
Herrschern und später Staaten folgte. Die erste Stadt (in der
europäischen Vorläuferregion) war ab dem 6. Jahrtausend v. Chr. Eridu
in Mesopotamien. Kriege sind also kulturell-zivilisatorisch bedingt
und gehören nicht zur biologischen Natur des Menschen. Jäger und
Sammler hatten zwar auch Konflikte, konnten aber übermächtiger Gewalt
zwischen Gruppen ausweichen. Mobilität sicherte ihr Überleben.
Menschenrecht auf Mobilität sichert Flüchtlingen und Migranten ihr
Überleben.
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Quelle:
© 2016 by Manfred Lotze
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2016
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